Salino &

die gefesselten Pinguine

Kapitel 1 - Kein Suizid


„Selbstmord?! Im Leben nicht!” stellte Petra empört fest. „Nicht Mathias, nicht mein Bruder. Nie im Leben.“

Sie nahm die Brille ab, weil einige Tränen auf den Gläsern Flecken hinterlassen würden.

„Mechthild! Ich lege jetzt auf und mache mich auf den Weg. In drei Stunden bin ich spätestens bei dir.”

Es war jetzt nicht so, dass Petra zu ihrem Bruder ein besonders inniges Verhältnis gehabt hätte, aber es war nun mal ihr Bruder. Auch wenn er damals diese Bäuerin geheiratet und aufs Land gezogen war, hatten sie den Kontakt nie ganz verloren.

Petra überlegt nicht lange und wählte die Nummer ihres Abteilungsleiters. Sie hatte weiß Gott genug Urlaub und Überstunden angehäuft, um sich nun ein paar Tage Zeit zu gönnen.

Das sah Herr Strombusch naturgemäß ganz anders, aber Petra ließ sich nur ungern die Butter vom Brot nehmen. Entweder eine Woche Urlaub oder er hätte morgen eine Krankschreibung auf dem Tisch. Vor einer Kündigung hatte Petra keine Angst. Sie liebte ihre Arbeit bei der Versicherung und sie war wirklich gut darin. Sie könnte jederzeit die Firma wechseln, weil gute Ermittler bei der Schadensregulierung immer gesucht wurden.

Das musste dann auch Strombusch einsehen. Und nein, sie würde für sein Entgegenkommen nicht mit ihm essen gehen. Zum hundertsten Male: „Nein.“

Da Petra regelmäßig auf Dienstreise ging, hatte sie ihre Sachen immer halb gepackt. Nur, was man auf so einem Bauernhof tragen könnte, das wusste sie jetzt nicht. Die einzigen Hosen in ihrem Schrank waren ihre Reithosen. Kurzentschlossen schmiss sie sie samt der Stiefel in eine Extratasche und machte sich auf den Weg.

*

Rauschenbach war ein kleines verträumtes Kaff inmitten des Sollings. Hier gab es düstere Wälder, steile Hügel und jede Menge Wildschweine. Eines davon hatte sich gerade in diesem Moment entschieden die Straße zu überqueren. Eine eher unglückliche Entscheidung, denn Petra kam genau dort mit 110 km/h um die Ecke.

Petra war nicht in der Laune zu bremsen. Schon gar nicht, wenn sie dabei riskierte von der Straße abzukommen. Sie hatte genug Wildschäden begutachtet, um zu wissen, dass die Sau weniger Schaden verursachen würde, als die Zwischenlandung im Straßengraben.

„Hau ab!“ schrie sie durch die Windschutzscheibe und hielt das Lenkrad fest in beiden Händen.

Die Sau schien zu ahnen, dass Petra nicht bremsen oder ausweichen würde, denn sie schwang energisch ihre Schinken und sprang im letzten Moment von Fahrbahn. Petra hätte schwören können, das ihr Ringelschwanz einen langen Kratzer an ihrer Seitenwand gezogen hatte, so knapp war das. Aber im Rückspiegel war von der Sau schon nichts mehr zu sehen. Sie war ins Unterholz gesprungen und brauchte wohl, ähnlich wie Petra, ein paar Sekunden, um das ausgeschüttete Adrenalin zu verdauen.

„Rauschenbach, ich komme!“ rief Petra immer noch leicht erregt, als sie mit 80 km/h das Ortsschild passierte. Dabei wurde sie zwar nicht wirklich geblendet, aber gesehen hatte sie den Blitz schon. Eigentlich genauso klar und deutlich, wie die Kelle, die nur hundert Meter weiter rausgehalten wurde und sie zum Anhalten auf der Bushaltestelle zwang.

„Was denn?“ fragte Petra die junge Polizistin mit Pferdeschwanz und dem passenden Gebiss.

„Sie waren zu schnell“, erklärte die Polizistin.

„Ich hab es eilig. Ich muss zu einer Beerdigung!“ verteidigte sich Petra und nahm im gleichen Moment den Widerspruch in diesem Satz wahr.
„Sie hätten lieber langsamer fahren sollen, dann wären sie auch schneller da!“ Das war jetzt auch nicht wirklich widerspruchsfrei. Und es war dieser naturbelassene Frohsinn, den die Beamtin ausstrahlte, der Petra so richtig sauer aufstieß.

„Das glaube ich kaum. Und im Übrigen, sollten Sie Ihre Zeit lieber damit verbringen ihre Schweine vernünftig zu hüten. Grad eben wäre mir so eine Wildsau beinahe vors Auto gelaufen.”

„Da stehen überall Schilder für Wildwechsel. Haben Sie die nicht gesehen?“

„Ja doch Herrgott, da ist von springenden Rehen die Rede, aber nicht von 160 Kilo-Schweinen mit Borstenpanzer und vergilbten Hauern.“

„Ich dachte es war eine Sau“, freute sich die Polizistin, die wohl durch Nichts aus der Ruhe zu bringen war. Ganz anders als Petra.

„Es geht ums Prinzip!“ zickte Petra zurück.

„Schön, dass sie das auch so sehen!“

Das war die Einleitung, zum Höhepunkt des Tages einer jungen Beamtin, die sich in den Wäldern des Sollings eigentlich nur zu Tode langweilte.
Die allgemeine Verkehrskontrolle.

Sie zog das ganze Programm durch, inklusive Kontrolle der Motor- und Fahrzeugrahmen-Nummer. Das dauerte und dauerte. Schließlich mussten da eine Menge Ziffern Stück für Stück abgeglichen werden.

Petra knurrte leise in sich hinein. Ihr war klar, dass jedes weitere Wort ihr Leiden jetzt nur noch verlängern würde.

Und dann kam zu der Geldstrafe wegen überhöhter Geschwindigkeit auch noch ein Bußgeld für das abgelaufene Verbandpäckchen hinzu.
„Okay!“ knurrte Petra und unterschrieb, was zu unterschreiben war, nahm den Papierkram an sich und schwor, dass das Bußgeld für das Erste-Hilfe-Päckchen von Strombusch bezahlt werden würde. Das hier war schließlich ein Firmenwagen. Da durfte man wohl von einer ordnungsgemäßen Grundausstattung ausgehen.

*

So früh hatte Mechthild ihre Schwägerin noch gar nicht erwartet. Sie nahm Petra in die Arme schluchzte halblaut: „Mit so etwas hat doch keiner gerechnet. Wirklich nicht.“

Die Umarmung war Petra sichtlich unangenehm. Streng genommen kannte sie ihre Schwägerin kaum. Und so viel Nähe zu anderen Menschen war Petra generell nicht geheuer. Zudem fühlte es sich irgendwie seltsam an, eine Frau zu umarmen, weil ihre Brüste dabei gegeneinander stießen. Und Mechthild trug wohl einen ähnlich steifen Büstenhalter wie sie selbst. Das war eigenwillig hinderlich und führte bei Petra zu der Vorstellung, dass jeden Moment, durch die Reibung erzeugte, kleine blaue Blitz von Brust zu Brust springen müssten.

„Wo ist es denn passiert? Hier?“ fragte Petra und versuchte sich aus der Umarmung zu lösen.

„Nein, nein. Nicht hier!“ schluchzte Mechthild. “Oben bei der Mühle ist es passiert.”

„Bei welcher Mühle?“

„Ach, Mathias hat doch letztes Jahr die alte Wassermühle oben am Hang gekauft. Er wollte sie umbauen zu einer Ölmühle. Wir haben so viele Walnussbäume und daraus wollte er Öl gewinnen, weil sich die Nüsse selbst so schlecht verkaufen lassen.“

„Aha!“

Ihr Bruder hatte schon immer einen leichten Tick gehabt. Lieder hatte er seine spinnerten Ideen auch immer irgendwie umgesetzt. Niemand in der Familie war jemals Landwirt. Doch Mathias wollte, seit er 12 Jahre alt war, Bauer werden und davon war er nicht abzubringen gewesen. Bereits mit 16 war er nach Rauschenbach gezogen und hatte auf allen möglichen Höfen gearbeitet und mit 25 hatte er es geschafft und endlich einen eigenen Hof erworben.

„Und wo ist diese Mühle?“

„Oben am Rauschenbach, schon fast außerhalb des Dorfes.“

„Kannst du mich da hinbringen?“

„Warum?“ fragte Mechthild mit einer leichten Beklemmung in der Stimme.

„Ich würd es mir gern mal ansehen“, antwortete Petra vorsichtig.

Vielleicht war es doch eine zu große Belastung für ihre Schwägerin. Sie selbst aber musste den Ort sehen, an dem sich ihr Bruder sich erhängt haben sollte. Einfach schon, weil sie die Erwartung hatte dort ein Gefühl dafür zu bekommen, ob es wirklich ein Selbstmord war oder nicht.

*

Die Mühle lag ein wenig ab von der Ortschaft. Zu Fuß vom Hof her war sie jedenfalls nicht zu erreichen.

Petra hielt den Wagen an und stierte erwartungsvoll durch die Windschutzscheibe. Aber Erkenntnisse kamen ihr dabei nicht. Wohl aber, als sie ausstieg und ihre Pumps sofort ein wenig in dem moosigen Waldboden versanken. Sie spürte, wie sich ihre Nylons im Schuh mit Wasser vollsaugten und die Kapillarkräfte der seidigen Fasern die Feuchtigkeit und Kälte langsam aber unaufhaltsam ihre Beine hinauf kriechen ließ.

Das war natürlich nur Einbildung. In Wirklichkeit kam die Kälte von der Vorstellung, dass ihr Bruder noch gestern dort oben im Giebel gehangen haben sollte.

„Da an dem Balken mit der Umlenkrolle, dort hat er gehangen.“

Petra ignorierte Mechthilds Schluchzen und schaute zu dem Dachbalken hinauf.

„Er hat sich draußen erhängt?“ fragte sie ungläubig.

Sie hätte nicht sagen können, warum sie in diesem Moment nicht mehr an einen Suizid glaubte, aber sie wusste jetzt einfach, dass ihr Bruder umgebracht worden war. Das war schrecklich, aber es beruhigte sie auch irgendwie.

Sie stapfte durch den nachgiebigen Boden bis zu dem Scheunentor. Sie sah hinauf, aber da gab es nichts zu entdecken.

„Kommen wir da irgendwie rein?“ fragte sie Mechthild.

„Vielleicht durchs Büro.“

Mechthild schien sich wieder gefangen zu haben. Mit ihren breiteren Absätzen fiel es ihr weit weniger schwer, den, mit dicken, runden Steinen versetzten, Weg bis zur Mühle hinauf zu stapfen.

An der Tür des Büros war ein Polizeisiegel angebracht.

„Vielleicht können wir durch das Fenster“, schlug Mechthild vor und zeigte auf eine Sichtöffnung ohne jede erkennbare Dämmfunktion.

Vermutlich war das Fenster über 100 Jahre alt. Es bestand aus einem Metallgerüst mit stumpfen Scheiben, die durch dicke, unförmige Kitwülste gehalten wurden.

„Vielleicht!“ Petra rüttelte an dem Fensterrahmen, aber das Fenster war wohl seit 50 Jahren nicht mehr geöffnet worden.

„Das würde ich lieber lassen!“ ertönte eine kräftige, tiefe Männerstimme, die keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Forderung aufkommen ließ.

Petra und Mechthild drehten sich irritiert um.

„Bruhns. LKA Hannover“, stellte sich der unscheinbar gekleidete Mann vor. „Ich leite hier die Ermittlungen und was sie da …“

„Was für Ermittlungen?“ fuhr Petra dazwischen. Man konnte ihr einen Schreck einjagen, aber einschüchtern konnte man sie nicht.

„Also, das geht ja wohl nur …“

„Ich bin seine Schwester. Also! Was für Ermittlungen? War es doch kein Selbstmord?“

Bruhns vom LKA war bis auf zwei Meter an die Frauen herangekommen und schaute Petra sturr in die Augen.

„Bislang ist das meine bevorzugte Theorie. Solange nichts dagegen spricht, ist alles gut. Wissen Sie, so ein Suizid ist ja weit weniger Papierkram, …“

„Weniger Papierkram?“ Petra mochte diesen Kerl auf Anhieb. Sie hatte häufiger mal mit dem LKA zu tun, meistens bei Brandstiftungen. Dieses Exemplar hier, war einer der ganz abgebrühten Ermittler. „Mein Bruder hat sich nicht umgebracht, das ist doch wohl sonnenklar!“

Bruhns zögerte mit einer Antwort. Er zögerte ein bisschen zu lange und Petra wusste, dass da etwas war, was er nicht erzählte.

„Außer dem Fehlen eines Abschiedsbriefes deutet bislang so ziemlich alles auf einen Suizid hin“, erklärte Bruhns.

„Aber Sie bleiben dran?“ wollte Petra von ihm wissen.

„Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, deshalb können Sie hier auch nicht rein.“

„Wann?“

Bruhns fischte etwas aus seiner Jackentasche und steckte es sich in den Mund. Männer, die Kaugummi kauten, waren eigentlich nicht ihre Sache.

„Wann also?“ hakte sie energisch nach.

„Die Leiche ist bereits freigegeben. Morgen, nach der Beerdigung, werden die Siegel entfernt. Können Sie sich so lange gedulden?“ fragte Bruhns und musterte Petra eindringlich.

Sie machte sich gerade und schob die Brust ein wenig vor.

„Abgemacht, morgen nach der Beerdigung. Und sie machen derweil ihre Arbeit gründlich, ja?!“

Bruhns zuckte leicht zusammen. Seine Miene verfinsterte sich. Er machte seine Arbeit immer gründlich. Zu gründlich. Er nahm sich noch eine Maaloxan und warf sie ein. Das war wieder so ein Fall, der seinen Magen leicht zum Überkochen brachte.

„Komm Mechthild, wir haben noch einiges zu tun, bis zur Beerdigung.“



Kapitel 2 - Plaudertaschen


So viel gab es da gar nicht zu tun. Mechthild erwies sich als nahe am Wasser gebaute Pragmatikerin. Sie hatte längst alles organisiert und sich keineswegs in ihre Trauer zurückgezogen.

Wer jedoch nicht wirklich vorbereitet war, war Petra. Sie hatte in der Eile überhaupt nichts Schwarzes in den Koffer gepackt und nun musste sie sich dringend neu einkleiden. Sehr dringend, weil die Beerdigung schon am Nachmittag war. Mechthild organisierte unterdessen weiter.

*

Das Angebot mit der größten Auswahl an Damenbekleidung hatte Stockmüller, das einzige Bekleidungsgeschäft in Rauschenbach. Es war nicht nur eine Frage des Patriotismus hier zu kaufen, sondern Petra hoffte auch etwas mehr über ihren Bruder zu erfahren.

Und richtig. Die beiden Verkäuferinnen waren geschwätziger, als ein Reisebus voller schwuler Friseure.

„Ich hab’s ja immer gesagt …“, behauptete Frau Stockmüller, während sie Petra vorn die nachtschwarze aber auch fast durchsichtige Bluse zuknöpfte. “Einen beigefarbenen BH können sie darunter aber nicht tragen. Sylvia hol doch mal einen schwarzen Doreen. 95D?”

Petra nickte stumm. Wie beim Friseur mochte sie es nicht sonderlich, wenn sie in die Rolle eines Kindes zurückgedrängt wurde. Sie konnte sich schon seit Jahren selbst anziehen. Aber Frau Stockmüller ließ es keinesfalls zu, dass man ihr schlechten Service nachsagte.

„Was haben Sie schon immer gesagte?“ fragte Petra mit zähneknirschender Geduld nach.

„Wie? Ach so … Das mit der Mühle, das musste ja Unglück bringen!“

Frau Stockmüller hatte ihr die Bluse wieder ausgezogen, den schwarzen Büstenhalter aus der ziemlich zerdrückten Packung gefischt und ihr sorgfältig angelegt. Sie versuchte ihn zu schließen.

„Das wird knapp.“

„Was war denn mit der Mühle?“

„Also kleinere Modelle haben wir nicht da. Das ist schon unsere kleinste Größe. Wir legen uns ja Nichts hin, was wir nicht verkaufen können.“

„95D ist schon gut. Das ist meine Größe“, behauptete Petra genervt.

„Also die Körbchen ja, aber hier im Unterbrustbereich, als da sehe ich ja eher eine 90.“

„Ich werde bei der Beisetzung tief einatmen und die Luft anhalten. Dann geht das schon.“

„Wenn sie meinen. Aber … Sylvia, wie siehst du das?“

Jetzt fummelten schon zwei Frauen an ihren Brüsten herum. Dabei wollte sie doch nur etwas Schwarzes für die Beerdigung kaufen.

„Das reicht jetzt. Ich werde gut essen, vor und bei der Beerdigung, dann passt das schon …. Also, wie war das jetzt mit der Mühle?“

„Mit der Mühle? Ach ja, … Sylvia sieht doch mal nach, ob wir so kleine Hüfthalter überhaupt im Lager haben. Ich glaub es fast nicht.“

Petra platzte gleich der Kragen.

„In Schwarz, ja!“

„Ist klar.“

Petra schaute der Tochter von Frau Stockmüller nach, die sich eine schmale Stiege in den Keller hinabzwängen musste. Schon der Nachwuchs trug hier BH-Größe 100F. Was Frau Stockmüller selbst anging, wollte Petra gar nicht darüber nachdenken. Aber es lag sicherlich irgendwo im hinteren Drittel des Alphabetes. Überhaupt, was gingen sie jetzt die BH-Größen der Dorfprominenz an? Sie musste das Gespräch wieder auf den Punkt …

„Wer sich mit dem Bürgermeister anlegt, das kann ja nur schiefgehen“ kam Frau Stockmüller ihr zuvor. „Der wollte die Mühle damals auch kaufen. Aber der alte Siebert wollte ja partout nicht an ihn verkaufen. Angebote hat er ihm gemacht. Eins besser als das andere. Aber nein. Und als der Mathias dann gekauft hatte, wollte der Bürgermeister natürlich, dass der jetzt an ihn weiter verkaufte.“

„Warum?“ fragte Petra die hellhörig geworden war und es störte sie jetzt nicht weiter, dass die zwei Frauen ununterbrochen an ihrer Unterwäsche herum zupften und dabei wenig zufrieden schnauften. Vielleicht war das ja auch nur ihre natürliche Kurzatmigkeit.

„Weiß man nicht genau …“, mischte sich nun auch Sylvia mit ein. „Ich glaube, der wollte einfach verhindern, dass sich Öko-Matjes hier im Dorf noch weiter ausbreitete.“

„Öko-Matjes?“

„Ja, den Spitznamen hat der Mathias hier schnell weg gehabt. Weil er ja aus Hamburg kam und weil bei ihm alles Öko sein musste. Das hat den anderen hier ganz schön gestunken. Wenn da so ein Fischkopp kommt und meint alles besser machen zu müssen. So, als wenn die anderen Bauern hier nur ungesundes Zeug herstellten.“

„Na, und dann ja noch die Sache mit der Mechthild. Die war ja eigentlich dem Hannes versprochen. Das war schon fest abgemacht. Den Hof hat der alte Kühn schon immer im Kalkül gehabt“ sinnierte Frau Stockmüller.

„Welcher Hannes?“

„Na, dem Kühn sein Sohn! … Vom Bürgermeister!“

„Ach, und der sollte die Mechthild heiraten“, fragte Petra interessiert nach.

„Ja, natürlich. Die Äcker von Mechthilds Hof liegen doch zwischen denen vom Kühn und seinem Hof. Außerdem ist es mit das beste Ackerland hier in der Gegend. Nur sehr wenig Steigung. Das hätte der Kühn sich damals gerne gegriffen. Aber dann tauchte ja der Öko-Matjes ier im Dorf auf“, erzählte Frau Stückmüller, während sie Petra in den Rock half.

„Wo die Liebe hinfällt. Aber mit der Mechthild wäre der Hannes sowieso nicht glücklich geworden“, behauptete Sylvia. „Die hat sich doch nie gefügt, das war schon bei ihrem Vater so. Die hat immer gemacht, was sie wollte.“

Die beiden Frauen richteten sich ächzend auf.

„So!“ stellte Frau Stockmüller zufrieden fest. „Ich glaube so können wir sie auf den Friedhof lassen, was?“

Petra betrachtete sich im Spiegel. Man könnte meinen, sie sei die Witwe. Und man könnte ebenso meinen, dass sie sich gleich in der Kondolenzreihe einen Nachfolger aussuchen wollte. Der Rock war deutlich zu kurz, reichlich eng und die Bluse viel zu transparent. Aber darüber wollte Petra mit den beiden Verkäuferinnen jetzt nicht diskutieren. Sie hatte genug gehört.

Sie ließ die Sachen gleich an, was sie sonst bestenfalls einmal in einem Schuhgeschäft getan hatte, und nahm ihre alten Sachen in der Tüte mit. Dann zahlte sie und machte sich auf den Weg zum Friedhof.



Kapitel 3 - Die Beisetzung


Viele Trauergäste waren das nicht gerade, fand Petra. Streng genommen gar keine, weil der Kommissar vom LKA wohl kaum unter die Kategorie Freunde oder Verwandte fiel.
„Wir haben sehr zurückgezogen gelebt“, flüsterte Mechthild ihr zu, während sie langsam hinter Sarg hergingen.

Die Grabrede war kurz und gab wenig her. Nur Mechthild brachte mühsam ein paar Worte heraus, die von tiefer Liebe zu ihrem Bruder geprägt waren und Petra an den Rand der Tränen brachte.

Bruhns drückte der Witwe sein Beileid aus. Doch mit einem einfachen Händedruck gab sich Petra nicht zufrieden.

„Wussten Sie eigentlich, dass es im Dorf Streit um die Mühle gegeben hatte?“

„Nein“, seufzte Bruhns. „Was ist mir da entgangen?“

Petra beschloss zur Sicherheit ein wenig zu übertreiben: „Man hat meinen Bruder unter Druck gesetzt, damit er die Mühle verkauft.“

„Wer hat ihren Bruder unter Druck gesetzt? Und vor allem wie?“ hakte Bruhns mit mäßigem Interesse nach.

„Der Bürgermeister!“

„Der Bürgermeister?“

„Ja, Bürgermeister Kühn. Der wollte die Mühle unter allen Umständen kaufen. Und sein Sohn hätte damals eigentlich meine Schwägerin heiraten sollen. Und nun? Was wird jetzt, wo Mathias tot ist mit der Mühle?“

Bruhns zuckte mit den Schultern. „Das werden wir gleich bei der Testamentseröffnung erfahren.“

„Gleich?“ Petra wusste gar nicht, dass heute auch noch die Testamentseröffnung sein sollte.

„Ja, das ist doch der eigentliche Grund, warum ich noch hier bin.“

„Was heißt der eigentliche Grund, gibt es noch einen anderen?“

Bruhns wollte sich vor einer Antwort drücken. Er schob sich wieder einen Kaugummi in den Mund und knurrte ein leises: „Na ja.“

„Was?“ wollte Petra wissen. „Was gibt es da noch?“

„Na ja. Die Gerichtsmedizin ist sich nicht ganz sicher, ob ihr Bruder mit so viel Alkohol im Blut überhaupt in der Lage war, allein die Stiege zum Dachboden hinauf zu klettern.“
„Er hatte Alkohol im Blut?“

„Wahrscheinlich, um sich Mut anzutrinken.“

„Wie viel?“

„Na ja. So um die 3,1 Promille“, sagte Bruhns zögernd, wohl, weil er wusste, was jetzt kommen musste.

„3,1?“ fragte Petra fassungslos. „Da ist doch kein Mensch mehr in der Lage vernünftig zu handeln!“

„Sich aufzuhängen ist ja auch nicht wirklich vernünftig, oder?“

„Seien Sie nicht albern!“ schnauzte Petra den Kommissar an. „In diesem Zustand hängt sich keiner selber auf!“

„Die einen meinen ,ja‘. Die Anderen meinen ,Nein‘. Da sind sich die Pathologen nun wirklich nicht einig“, redete sich Bruhns bedächtig raus.

„So ein Unsinn! Da darf man ja wohl mit Fug und Recht an einem Selbstmord zweifeln.“

Bruhns sah sich ein wenig in die Ecke gedrängt.

„Ich bin ja noch hier“, stellte er klar. „Notfalls, bis die Gerichtsmediziner sich einig sind.“

„Na gut“, gab sich Petra widerwillig zufrieden und ließ Bruhns wütend stehen.

*

Der Leichenschmaus fiel mehr als bescheiden aus. Zwei in Schwarz gekleidete Figuren, die sich mit einer Tasse Kaffee zwei Stück Butterkuchen schmecken ließen.

Die Gaststätte zur Post war auch vom Ambiente her nicht dazu angetan, länger als wirklich erforderlich zu verweilen. Gedeckt und bestellt war für 8 Gäste, aber Petra und Mechthild waren die einzigen Anwesenden.

„Wer ist denn alles nicht gekommen?“, wollte Petra mit Blick auf die leeren Teller wissen.

„Eigentlich Niemand“, sagte Mechthild. „Es war mir einfach nur zu peinlich einen Tisch für zwei zu bestellen.“

Petra schluckte und warf einen irritierten Blick auf den Teller mit den vielen Kuchenstückchen.

„Vielleicht kommen Manni und Sophie gleich noch vorbei“, sagte Mechthild, als sie Petra Blick auf den Kuchenberg sah. „Wenn sie die Tiere versorgt haben.”

Petra nickte stumm.

„In einer halben Stunde müssen wir ja schon zum Notar“, fuhr Mechthild fort.

Sie schob den Kuchenteller beiseite. Offenbar war ihr der Appetit vergangen.

„Soll ich mitkommen?“ fragte Petra mitfühlend.

Mechthild stutzte.

„Hast du den Brief nicht bekommen?“ fragte sie. „Du bist doch eingeladen zur Testamentseröffnung.“

Nein, einen Brief hatte Petra nicht erhalten. Als, sie von dem Tod ihres Bruders gehört hatte, war sie nicht mehr am Briefkasten gewesen. Und wenn er heute gekommen war, dann konnte sie ihn doch gar nicht bekommen.

„Nein, ich habe keinen Brief bekommen.“

Mechthild seufzte.

„Ich habe dem Notar ja gleich gesagt, dass das Alles viel zu kurzfristig ist. Aber der Mann hatte es ja so eilig. Die Sache mit der Mühle konnte ihm ja gar nicht schnell genug geregelt werden. Ist der Schwager vom alten Kühn“, fügte Mechthild noch erklärend hinzu.

„Was ist mit der Mühle?“ wollte Petra wissen.

„Keine Ahnung. Kühn hat mir gestern schon ein gutes Angebot gemacht. Aber man muss ja wohl wenigstens die Testamentseröffnung abwarten, oder?“

„Dieser Kühn scheint ja wirklich an dieser Mühle interessiert zu sein“, murmelte Petra. „Kommt mir ja schon ein bisschen merkwürdig vor.“

„Von mir aus kann er sie haben“, sagte Mechthild und entschied sich nun doch noch für ein weiteres Stück Kuchen. „Ich hab den Hof, das wird Arbeit genug sein. So ohne Mann im Haus.“

„Na, vielleicht macht dir ja der Sohn vom Kühn noch einen Antrag!“ flachste Petra.

Mechthild sah sie verärgert von der Seite an.

„Wenn der mir auf den Hof kommt, sollte er lieber eine schusssichere Weste tragen.“

So einen scharfen Ton war Petra von ihrer Schwägerin gar nicht gewohnt. Es war wohl besser darüber keine Scherze zu machen und den Mund zu halten. Sie würde schon noch herausfinden, warum Mechthild so heftig reagiert hatte. Statt nachzufragen entschloss sie sich lieber für ein drittes Stück Butterkuchen, schließlich hatte sie den Damen Stockhausen versprochen ihre Figur schnellstmöglich den lokalen Gegebenheiten anzupassen.

*

Der Notar war ein kleiner, rundlicher und besonders fröhlicher Kerl. Rheinländer, wie er sofort klarstellte. Er hatte eine kalte Zigarre im Mund und nahm sie auch nicht heraus, während er kondolierte. Sie hüpfte bei jedem Wort in seinem Mund auf und ab und man erwartete, dass sie ihm jeden Moment aus dem Mundwinkel fallen würde.

Man hätte meinen können er würde auf Zeit bezahlt, so schnell, wie er zur Sache kam. Die Personalien wurden mit zwei Sätzen festgestellt. Ja, ja persönlich bekannt und weiter. Dann verlas er das Testament, wobei er sporadisch alles durch et cetera ersetzte, was er persönlich für unwichtig hielt.

Letztlich stellte er fest, dass Mechthild den Hof erbte und Petra die Mühle.

Offenbar war Petra die einzige, die davon überrascht war, dass sie überhaupt etwas anderes als ein oder zwei kleine Andenken erbte.

Während Petra sich noch vergewisserte, dass sie wirklich die Unglücksmühle erben sollte, eröffnete ihr der Notar, dass ihm für eben jene Mühle ein geradezu großzügiges Kaufangebot vorlag.

„Na klar!“ rief Mechthild verächtlich.

Nein, den potentiellen Käufer konnte der Notar nicht nennen, das Angebot war vertraulich abgegeben worden und die Abwicklung würde über ihn erfolgen.

So leicht war Petra nicht aus er Fassung zu bringen, aber im Moment kam sie nicht ganz mit. Spontan griff sie nach dem Kugelschreiber, den der Notar ihr hinhielt, weil sie dachte, sie müsste das Testament unterschreiben, aber im letzten Moment sah sie, dass der Mann ihr einen Kaufvertrag für die Mühle hinhielt.

„Nein!“ grunzte Petra kategorisch. „Ein Verkauf der Mühle kommt nicht in Frage!“

„Aber, was wollen Sie mit so einer baufälligen Immobilie, so weit weg von Hamburg? Die können Sie doch gar nicht nutzen!“ setzte der Anwalt nach.

„Dort ist mein Bruder gestorben!“ echauffierte sich Petra. „Der ist eine Stunde unter der Erde und Sie versuchen mir hier sein Andenken abzuschwatzen?!“

„Ich versuche Ihnen nur Unannehmlichkeiten zu ersparen!“ sagte der Notar mit einem drohenden Unterton.

„Was denn für Unannehmlichkeiten?“ wollte Petra wissen.

„Ich meine ja nur: Sie sind nicht von hier. Wenn Sie jetzt nicht verkaufen, müssen Sie wieder herkommen, das kann ziemlich viel Aufwand bedeuten. Jetzt könnte ich das Alles schnell und bequem für Sie lösen!” schlug der Notar vor.

Sein rheinischer Humor war völlig in den Hintergrund getreten. Er wirkte jetzt eher wie eine amphibische Mischung aus Kugelfisch und Pitbull.

„Vielen Dank, aber ich bin sicher meine Schwägerin wird die Dinge angemessen regeln.“

„Ob Ihre Schwägerin, da die richtige Einstellung hat? Ich weiß ja nicht, da könnte schon eine Menge schief gehen ...!“

„Darauf lasse ich es gern ankommen. Vielen Dank für Ihre Bemühungen, aber ich werde mein Erbteil jetzt erstmal genau unter die Lupe nehmen!”

Sie spürte Mechthilds tröstende und beipflichtende Hand auf ihrer Schulter und hörte wie sie sagte: “Willkommen in Rauschenbach!”

*

Als sie wieder auf den Hof kamen, stand auf einem leicht vermoostem Kunstofftisch, die Platte mit dem Butterkuchen. Manni und Sophie, die auf Mechthilds Hof arbeiteten, hatten sich den Kuchen in der Gaststätte zur Post abgeholt. Es hatte zwar Diskussionen gegeben, aber die beiden lebten lange genug hier, um sich gegen den Postwirt durchzusetzen. Bezahlt war bezahlt.

Da waren inzwischen zwar mehr Fliegen als Mandelsplitter auf dem Kuchen, aber Petra griff trotzdem zu. Die Testamentseröffnung hatte sie irgendwie hungrig gemacht. Oder war das die Landluft?

„Und nun?“ fragte Mechthild, die noch Kaffee auf gesetzt hatte und sich auch ein Stück Butterkuchen einverleibte. „Was soll jetzt aus der Mühle werden?“

„Willst du sie haben?“

„Nee, absolut nicht!“

„Aber du kannst damit ein gutes Geschäft machen, denke ich!“

„Das interessiert mich nicht. Ich komme klar. Die Mühle hat Mathias dir vererbt und ich denke er hat schon gewusst warum.”

Petra griff sich ihr drittes Stück Butterkuchen und meinte zu bemerken, wie ihr Hüfthalter so langsam auf Spannung kam. Sie dachte nicht wirklich über die Sache mit der Mühle nach, weil in ihrem Bauch die Entscheidung längst gefallen war.

„Ich bleibe vorerst hier!“

Urlaub hatte sie genug und es schien ihr nicht nur so, dass Mechthild ihren Beistand gut gebrauchen konnte, sondern, dass sie mit ihrer Erfahrung in Betrugsfällen hier noch Einiges aufzudecken hatte.



Kapitel 4 - Die Nacht in der Mühle


Einen wirklichen Plan hatte Petra nicht, aber sie beschloss, vor dem Abendessen noch einmal die Mühle zu besuchen. Vielleicht fand sie dort ja irgendwelche Hinweise, die sie weiterbrachten. Schließlich war sie inzwischen Eigentümerin des Gebäudes und es war von der Polizei freigegeben.

In der untergehenden Sonne wirkte das alte Steingemäuer geradezu romantisch. Sich hier umzubringen wirkte hingegen eher absurd.

Petra öffnete das hölzerne Tor unter dem Giebel, in dem Mathias sich angeblich erhängt hatte und hoffte von hier aus ohne ein Brecheisen ins Büro zu kommen.

„Haa!“ entfuhr ihr ein kleiner Aufschrei.

In der geöffneten Tür stand schemenhaft eine Gestalt.

„Ich vermute sie brauchen das hier!“ behauptete Bruhns und hielt ihr einen Schlüsselbund hin.

„Mann, haben Sie mich erschreckt!“

„Ich dachte mir schon, dass eine wie Sie keine Zeit verlieren wird, deshalb bringe ich Ihnen die Schlüssel lieber selbst vorbei, bevor Sie hier unnötigen Schaden anrichten.“
„Bruhns! Herrgott. Müssen Sie hier immer so herum schleichen?“

Bruhns zog die Schultern hoch. „Vielleicht habe ich ja doch etwas übersehen.“

„Und?“

„Nichts.“ Bruhns fischte sich wieder ein Kaugummi aus der Jackentaschen. „Außerdem wollte ich mich von Ihnen verabschieden. Ich kann meinem Abteilungsleiter meine Anwesenheit hier, durch nichts mehr rechtfertigen und muss zurück nach Hannover!“

„Das ist doch Unsinn. Die Sache stinkt, das wissen Sie genau!“

„Ich habe einen leichten Gestank in der Nase, das ist wahr, aber ich habe keinen einzigen stichhaltigen Ansatzpunkt gefunden, der eine weitere Ermittlung rechtfertigt.“

Petra war enttäuscht. Sie hatte mehr Vertrauen in Bruhns gesetzt.

„Aber!“ grunzte Bruhns und gab Petra seine Visitenkarte. „Geben Sie mir einen einzigen vernünftigen Grund und ich bin in zwei Stunden wieder hier. Rufen Sie mich an. Tag oder Nacht.“

„Das wird schneller sein, als Sie denken“, behauptete Petra zuversichtlich. Sie wußte das Bruhns Recht hatte und das er ein anständiger Kerl war, der sein Bestes gegeben hatte.
Sie gaben sich schweigend die Hand und als Bruhns sich umdrehte und zu seinem Wagen ging, rief Petra ihm noch mal nach: „Danke!“

Traurig sah sie Bruhns nach, der sein Auto an dem keinen Waldweg geparkt hatte, der an der Mühle vorbei, weiter hinauf auf den Berg führte.

*

„Dann mal los!“ seufzte Petra und suchte den Schlüsselbund nach einem Schlüssel ab, der zur Bürotür passen könnte.

Zwei kam in Frage. Es war natürlich der Zweite.

Irgendwie erwartete Petra ein schwergängiges Knatschen, als sie die Tür öffnete. Aber die Scharniere waren gut geölt und die Tür ließ sich leicht aufschieben.

Ordnung, war das halbe Leben, aber nicht ihres Bruders. Sein Schreibtisch quoll über von Papieren, es gab keine Ablagefächer. Aktenordner lagen kreuz und quer in einem kleinen Regal hinter dem Schreibtisch, daneben stand ein Eischrank. Recht neben dem Fenster befand sich ein Waschbecken, das Petras Meinung nach bestenfalls als Viehtränke dienen konnte und links neben dem Eingang stand ein altes Messingrahmenbett auf dem weiß-blau gestreifte Bettwäsche achtlos durcheinander gewürfelt lag.

Mit einem Wort. Das Chaos.

Petra setzte sich an den Schreibtisch und nahm wahllos Papiere und warf einen Blick darauf. Rechnungen, Werbung für Highspeed-Internet Anschlüsse, die es in dieser Pampa wohl frühestens im Jahr 3080 geben würde, Weinproben im Geschenkkarton mit Zufriedenheitsgarantie und unkündbarer Abo-Option, das übliche eben.

Das einzige Papier, was etwas mit der Mühle zu tun hatte, war ein Angebot für ein neues Mahlwerk. 28.000 Euro mit Einbau. Festpreisgarantie von Fischer und Söhne aus Hildesheim. Offenbar plante Mathias, die Hütte hier ordentlich zu sanieren. Dann daran geheftet fanden Sie noch zwei weitere Angebote, die Umbaumaßnahmen dieses Gebäudes betrafen.

Petra beschloss mal einen Blick auf das Kernstück der Mühle zu werfen. Den Raum mit dem Mahlwerk.

Der Hauptraum der Mühle war riesig, allerdings durch drei eher niedrigen Deckenebenen beschränkt. Ein Teil der Decken, war heraus gerissen, ebenso wie das alte Mahlwerk. Somit war in dem Raum ein Loch bis hinauf zum Dach entstanden. Mit den Resten der ehemaligen Laufstiege und Bodenkonstruktionen wirkte das wie eine Galerie über drei Etagen. Eigentlich war das ganz schön. Mit ein bisschen Arbeit könnte man da bestimmt etwas draus machen.

Petra setzte sich draußen neben dem Tor auf wackelige Bank. Hier musste eigentlich alles erneuert werden. Sie starrte gedankenverloren auf den roten Glutball, der an der Kante des gegenüberliegenden Hügel aufzuprallen schien.

Es war wirklich schön hier, das musste sie zugeben. Mit einem Schlückchen Rotwein liesse sich der Sonnenuntergang wohl noch besser genießen. Petra machte sich auf die Suche.

Nein, kein Wein. Sie warf einen Blick auf den Eisschrank, obwohl sie wußte, dass ihr Bruder nicht so ein Kulturbanause war, dass er den Rotwein dort aufbewahren würde. Dafür fand sie aber drei Flaschen Jever.

„Auch gut“, dachte sie, wenngleich ihr der Sinn eigentlich nacht etwas Härterem stand.

Kalt war das Bier und sie genoss den ersten noch leicht bitteren Schluck auf ihrer neuen Lieblingsbank, vor dem Haus, als ihr etwas durch den Kopf schoss.

Sie sprang auf und begann nach einem Eingang zum Keller zu suchen. Aber da war keiner. Sie durchsuchte die gesamte Mühle, aber fand einfach nicht das, was sie erwartet hatte.

Den Sonnenuntergang hatte sie knapp verpasst, als sie sich einen weiteren Schluck von dem inzwischen lauwarmen Bier gönnte und die Nummer von Bruhns wählte.

*

„Womit sich ihr Bruder so hat volllaufen lassen? Wie meinen Sie das?“ fragte Bruhns, der es hasste beim Autofahren zu telefonieren.

„Na, ich habe nur drei Flaschen Jever in der Mühle gefunden. Sonst nichts. Auch in den Mülltonnen, keine Spur von harten Getränken. Hinter der Tür zum Büro standen noch zwei leere Flaschen Jever und das war‘s. Wie hat er damit auf über 3 Promille gebracht?“

Es dauerte ein wenig, bis von Bruhns eine Antwort kam.

„Vielleicht hat er die Flasche in den Müll geworfen und der ist zwischenzeitlich geleert worden.“

„Seien Sie nicht albern Bruhns. Mein Bruder leert doch keine Flasche Whiskey und geht dann auf dem Weg sich aufzuhängen noch an der Mülltonne vorbei, um die leere Flasche ordnungsgemäß zu entleeren. Haben Sie das Chaos hier gesehen? Das war mein Bruder!“

Wieder zögerte Bruhns dem zuzustimmen. Durch die Fahrgeräusche klang seine Stimme abgehackt. „Ich werde morgen bei der KTU klären, ob die irgendwelche Flaschen sichergestellt haben.“

„Tun Sie das. Und wenn nicht, dann kommen Sie gleich wieder zurück, ja?“

Diesmal zögerte Bruhns mit der Antwort nicht. „Wenn ich keine Erklärung dafür habe, wie ihr Bruder den Alkohol zu sich genommen hat, bin morgen Mittag wieder da, versprochen!“

Zufrieden mit diesem Ergebnis legte Petra auf, sie genoss den Rest des lauwarmen und des noch gekühlten Bieres auf ihrer neue Terrasse und ging erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder ins Büro, um auf dem Messingbett einen unruhigen Schlaf zu finden.

*

Der Schlaf kam schneller als erwartet. Das Bett war zwar eine Zumutung, aber das Bier half darüber hinweg.

Vermutlich wäre Petra morgens sogar einigermaßen ausgeruht aus den Federn gekommen, wenn es nicht so kalt gewesen wäre. So was von kalt. Unerträglich kalt.

Petra wachte fröstelnd kurz nach Mitternacht auf. Laut war es außerdem. Es knackte ununterbrochen und das Büro war taghell erleuchtet. Allerdings flackerte das Licht.

Petra hatte eine Gänsehaut und ein heftiger Wind pfiff durch alle Mauerritzen. Sie brauchte eine Moment, bis ihr klar wurde: Es brannte!

Sie sprang in ihrer Unterwäsche aus dem Bett und riss die Tür auf. Sie erwartete das die gesamte Mühle in Flammen stand, doch so war es nicht. Das Feuer loderte laut knisternd vielleicht fünfzig Meter von der Mühle entfernt. Dort brannte der trockene Wald.

Es war ein Glück, das die Flammen noch nicht auf das Haus übergriffen hatten. Der Wind stand einfach günstig und trieb das Inferno eher vom Haus weg. Allerdings flogen immer wieder Funken in ihrer Richtung und die Flammen verursachten diesen kalten Wind, der sie geweckt hatte.

Petra rief die Feuerwehr an. Es klingelt siebzehn mal bis jemand abnahm.

„Hier brennt der Wald!“ rief sie ins Telefon.

„Wer ist denn da?“ fragte eine verschlafene Stimme.

„Petra Mosch. Und es brennt hier im Wald, direkt bei der Mühle am Rauschenbach.“

„Haben Sie versucht den Brandherd mit einem nassen Handtuch auszuschlagen?“ fragte die Stimme am Telefon mürrisch.

„Mit einem nassen Handtuch?“ Petra stockte der Atem. Ja, hatten die hier noch alle Tassen im Schrank? „Ich stehe hier mitten in einem Flammenmehr!“ schrie sie in den Hörer, auch um das Stürmen und knacken zu übertönen, das doch auch auf der anderen Seite der Leitung zu hören sein musste.

„Ja, meinen Sie, dass da die Feuerwehr nötig ist?“

„Ob ich meine, das die Feuerwehr ... Mit wem spreche ich denn überhaupt?“

„Walther!“

„Hallo!“

„Walther, wach auf. Hier ist irgendwer für die Feuerwehr!“

„Hallo!“ rief Petra wieder und wieder in das Telefon, aber niemand antwortet ihr.

„Feuerwehr Rauschenbach“, meldete sich dann endlich eine weitere verschlafene Stimme.

„Ja, super! Hier brennt der halbe Wald!“

„Wo denn etwa?“

„Direkt an der Mühle beim Rauschenbach. Kommen Sie jetzt endlich mal?“

Petra betrachtete voller Sorge die vielen Funken, die auf dem Dach der Mühle landeten. Es war nur eine Frage der Zeit bis, ...

„Keine Panik, gute Frau. Wir sind in nullkommanix da!“

„Mühle am Rauschenbach!“ brüllte Petra zur Sicherheit noch einmal, obwohl man die Flammen auch unten im Dorf sehen musste. Das war ja kein Lagerfeuer hier.
Die Leitung war aber bereits unterbrochen und statt einer Antwort ging nun unten im Dorf die Sirene los.

„Na endlich!“ fluchte Petra und rief ihre Schwägerin an.

Mechthild traf noch vor der Feuerwehr ein. In ihren Gummistiefeln und dem geblümten Nachthemd, sah sie etwas absonderlich aus. Aber sie zögerte nicht lang und schnappte sich eine Decke und tränkte sie mit Wasser.

„Hol die Leiter“, rief sie Petra zu.

Eine Minute später, waren die beiden Frauen auf das Dach der Mühle geklettert und schlugen mit nassen Decken auf die glühenden Geschosse ein, die drohten ihren Dachstuhl in Brand zu setzten.

„Haben Glück, wie der Wind steht“, keuchte Mechthild und schlug unablässig mit der schweren Decke um sich.

Unten flackerten endlich die Blaulichter der freiwilligen Feuerwehr auf.

*

Ein grüner Mercedes Benz mit einem Blaulicht auf dem Dach fuhr auf den Hof und ein dicker Mann in Jagdkleiddung quälte sich unglenk aus dem Auto.

Gleich hinter ihm hielt ein betagter Unimog und ein Rüstwagen aus den 70er Jahren. 8 Feuerwehrmänner zogen ihre Uniformen zurecht und bestaunten das Feuer.

„Da können wir nix machen!“ war die einhellige Meinung. „Das geht da unten an der Schnellstrasse eh von selber aus.“

„Ich denke Ihr seid die Feuerwehr!“ schrie Petra die Männer an und wischte sich mit dem Unterarm Ruß und Schweiß aus dem Gesicht.

Die Männer starrten Petra an, als ob sie von einem anderen Stern wäre. Dann wurde ihr klar, dass sie nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet war.

„Noch nie eine Frau in Unterwäsche bei der Brandbekämpfung gesehen?“ fauchte Petra.

„Das wäre war für unseren Feuerwehrkalender“, schlug einer der Männer vor.

„Oder als Maskottchen, vor auf dem Wagen!“

Petra kochte vor Wut und war kurz davor handgreiflich zu werden. „Wollt ihr jetzt löschen oder nur spannen?!“

In diesem Moment mischte Förster aus dem Mercedes ein.

„Nehmt die Sägen und schlagt da hinten zum Acker vom Ellerbeck eine Brandschneise ein. Das steht noch Weizen, den müssen wir ja nun nicht verlieren. Und hier vorne nehmt ihr auch die Bäume weg. Wir wollen doch nicht, dass unsere schöne Mühle abbrennt.“

Murrend und zögernd machten sich die Männer ans Werk.

„Mehr können wir nicht tun. Zum Löschen haben wir nicht genug Wasser“, behauptete der Wehrführer.

„Was?“ fauchte Petra. „Da vorn ist ein drei Meter breiter Bachlauf und Sie werden doch wohl ein paar Pumpen dabei haben!“

„Pumpen haben wir schon“, behauptete der Wehrführer, aber keinen Diesel dafür. „Der Kanister mit dem Diesel ist wohl irgendwie verschütt gegangen!“

Petra war fassungslos. Was war das denn für ein Haufen?

„Das wird ein Nachspiel haben!“ drohte Petra dem Förster. „Ich werde mich beim Bürgermeister persönlich beschweren!“

„Nur zu junge Frau, aber jetzt sind wir im Einsatz und müssen Ellerbecks Ernte retten. Sie entschuldigen mich ...“

*

„Was sind das denn für Idioten hier?“ fragte Petra, als sie wieder mit einem neuen nassen Handtuch auf dem Dach gegen die Funken kämpfte.

Allmählich liess der Funkenflug nach. Das Feuer schien sich wirklich tot zu laufen. Allerdings bestand nach wie vor die Gefahr, dass sich der Wind drehte.

Mechthild lachte atemlos auf. „Du bist eine Zugereiste, was erwartest du?“

„Ich erwarte das die Feuerwehr ihre Arbeit macht. Das erwarte ich.“

„Genau wie Mathias, der hat auch immer geglaubt, das sich hier irgendjemand um Recht und Ordnung schert ...“

„Mit mir nicht. Ich werde mich gleich morgen beim Bürgermeister und der Polizei beschweren!“

„Warum warten“, fragte Mechthild sarkastisch. „Der Bürgermeister ist der Kerl da unten in der Tracht und die Polizei kommt da gerade.“

Tatsächlich fuhr inzwischen auch die Polizei auf dem Hof vor.

Die Dienst habende Beamtin war eine gute Freundin von Petra, eine die es sehr genau nahm, wenn es um Verbandspäckchen und Fahrgestellnummern ging.

*

„Wie haben Sie denn den Brand verursacht?“ wollte Petras Lieblingspolizistin auch sogleich von ihr wissen.

„Was habe ich?“

„Vielleicht eine brennende Zigarette? In den Sommermonaten kommt das häufig vor. Diese Städter begreifen nicht wie trocken hier das Unterholz werden kann. Da genügt ein Funke ...!“

„Ich rauche nicht“, fuhr Petra dazwischen. „Und ich habe den Brand auch nicht verursacht, sondern lediglich gemeldet.“

„Ist aber Ihr Grundstück, das gebrannt hat!“

„Ja, dann ist es ja wohl umso unwahrscheinlicher, dass diesen Brand gelegt habe, oder!“

„Ich weiß nicht“, sinnierte die Polizistin. „Versicherungsbetrug oder einfach nur Langeweile? Na, das wird sich schon noch heraus stellen. Bitte melden Sie sich morgen um 10 Uhr zur Aussage auf dem Revier!“

Petra schüttelte den Kopf. Irgendwie kam sie mit diesem Dörflerwahnsinn nicht so richtig klar. Versicherungsbetrug? Sie! Na denn.

Allmählich brannte das Feuer herunter. Die meisten Flammen, waren jetzt weiter hinten, in der Nähe der Bundesstrasse zu sehen. Um ihr Haus herum rauchten verkohlte Baumreste und es sah aus, wie in einem Kriegsgebiet. Funken flogen nicht mehr und Mechthild hatte erschöpft die Decke vor die Mülltonne geschmissen.

„Komm“, sagte sie. „Hier oben kannst du nicht bleiben. Zieh dir was über, dann fahren jetzt erst mal runter auf den Hof und duschen uns diesen Brandgeruch vom Leib.“

Die Mühle selbst hatte zwar nichts abgekriegt, aber der Geruch nach Verbranntem hing überall in der Luft. Hier konnte sie tatsächlich nicht bleiben.

*

Es war wohl gegen halb vier, als Petra und Mechthild auf dem Hof eintrafen. Schlafen, würde Petra heute sicher nicht mehr, dazu war sie viel zu aufgedreht.

Die Ausstattung der Badezimmer auf Mechthilds Hof ließ Petras Meinung nach zu wünschen übrig. Sehr funktional aber auch sehr grün. Trotzdem war Petra froh unter der heißen Dusche zu stehen. Ihre Haut fühlte sich klebrig an und sie roch, als wenn sie drei Tage in einer Studentenkneipe übernachtet hätte.

„Weiß du“, hörte sie Mechthild Stimme undeutlich durch das rauschende Wasser, „ich glaube, den Brand hat jemand gelegt. Jemand, der möchte, dass du hier so schnell wie möglich wieder verschwindest.“

Daran hatte Petra natürlich auch schon gedacht, wenngleich ihre Gedanken in diesem Moment eher um die Frage kreisten, wieso sie eigentlich gemeinsam mit ihrer Schwägerin, die sie ja kaum kannte, das Bad benutzte.

Petra war nicht prüde, aber gemeinsam ein Badezimmer zu benutzen, war jetzt nichts, was sie mit ihren sonstigen Bekannten tat. Sie zögerte, das Wasser abzustellen, weil sie dann die Duschkabine verlassen musste und sich zwangsläufig nackt vor ihrer Schwägerin zeigen musste. Doch das Zögern hatte wenig Sinn, denn Petra wusste ja, dass Mechthild darauf wartete, ebenfalls die Dusche benutzen zu können.

Sie ließ sich noch einmal kälteres Wasser durchs Gesicht laufen, um die Müdigkeit zu vertreiben und stellte das Wasser ab.

„Ich glaube, das ist das Werk des Bürgermeisters. Der will doch die Mühle haben und das Feuer ist ja so gelegt worden, dass die Mühle nicht beschädigt wurde“, überlegte Mechthild.

Petra öffnete die Schiebetür aus Kunststoff und trat vorsichtig auf das Handtuch vor der Duschwanne. Einen Moment dachte sie daran ihre Arme vor der Brust zu kreuzen, doch dann entschied sie sich, dass sie vor ihrer Schwägerin nichts zu verbergen hätte.

Mechthild stand völlig unbekümmert und unbekleidet einen Meter vor ihr und hielt ihr ein großes, geblümtes Badehandtuch hin.

Petra nahm es und begann sich mit offnem Mund abzutrocknen. Fast hätte sie etwas gesagt.

Mechthild hatte eine Figur, die man unter den Kittelkleidern und Schürzen, die sie gewöhnlich trug, so gar nicht wahrnehmen konnte. Ein mächtiger, birnenförmiger Hintern, endete mit sanftem Schwung über die Beckenknochen in einer extrem schmalen Taille. Ihr Bauch wölbte sich spitz nach vorn heraus und ihr relativ schmaler Brustkorb trug die leicht abgeflachten, aber prallen Brüsten, die rechts und links weit herausragten und ihr Kreuz noch schmaler wirken ließ. Ihre Arme und Beine hingegen hätten jeden Jungbodybuilder die Tränen in Augen getrieben.Sie waren muskulös und definiert wie auch ihr Rücken. Mechthilds ganzer Körper bildete eine sehr bauchige und bodenständige Acht. Auch war sie längst nicht so dick, wie die anderen Schönheiten hier im Dorf, aber von Schlank auch weit entfernt. Kräftig wäre wohl der richtige Begriff.

Petra war es aus dem Fitnessstudio gewöhnt, das Frauen sich gegenseitig auf Fehler und Problemzonen musterten. Mechthild aber tat das nicht. Sie stieg unbekümmert in die Duschwanne und gab leichte Seufzer von sich, als das warme Wasser auf ihren Körper einprasselte.

Demnächst mehr …


Salino & die gefesselten Pinguine (101) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2005. Alle Rechte vorbehalten.