Lotte trägt halt Mieder

Lotte hatte er auf dem letzten Schützenfest kennengelernt. Irgendwann am Abend war sie auf seinem Schoß gelandet und dort auch für den Rest des Abends geblieben. Bald kamen sie ins Gespräch. Lotte mochte Bier und ihre Hobbys waren Wandern und Reiten. Damit hatten sie bis auf das Reiten und das Wandern schon eine Menge gemeinsam und eine ernsthafte Beziehung ließ sich unter diesen Umständen kaum noch vermeiden.

Aber das wollte Siegmar ja auch gar nicht. Im Gegenteil. Er war seit Jahren händeringend auf der Suche nach einer Frau wie Lotte. Eine, die nicht so zerbrechlich, so konsumfixiert wie die neue, deutsche Hupfdohle war. Eine, die mal mit anpackte, Facebook nur vom Hören Sagen kannte und nicht den halben Tag lang ein Stück Plastik am Ohr hatte, um nicht den Kontakt zu ihren 180 angeblichen Freunden zu verlieren. Er wollte eine Frau mit ausgeprägten Kanten im Gesicht und ebenso ausgeprägten Rundungen am Po.

Lotte war perfekt. Er mochte ihre Sommersprossen, ihre schmutzbraunen Haare, nicht so sehr ihre Versuche die mit Strähnchen aufzuwerten, aber allemal ihre leichten Cellulite-Grübchen an den Oberschenkeln. Aber genau die waren ihr erstes Problem.

Da Lotte war der felsenfesten Überzeugung, dass ihr Bindegewebe wohl irgendwie nichts taugte. Darum hatte sie sich angewöhnt diese langbeinigen, straff formenden Miederhosen zu tragen. Und damit das nicht so auffiel, auch noch in einem mehr oder weniger dezenten Braunton. Wenn es wenigstens Weiß oder Schwartz gewesen wäre, aber Braun?

Es hatte vier Wochen gedauert, bis Siegmar sie dann doch auf das Unterwäsche-Problem mal angesprochen hatte. Problem? Nein, nein, das klang viel zu sehr nach Beziehungsende.

Nein, nein. Er hatte wirklich charmant drum herum gesprochen. Hatte sich als Fan von Strapse und Spitzenwäsche geoutet und mal freundlich gefragt, ob sie so was nicht mal tragen könnte. Nur für ihn natürlich. Oder mal Schwarz. Nur, weil er als Mann ja, ... Ja genau, ein bisschen pervers war ja jeder Mann. In seinem Innersten. Schlimm? Nein, nein. Sie liebte ihn, oouups, und würde natürlich so etwas für ihn mal anziehen.

*

Vielleicht hatte Siegmar sich unklar ausgedrückt, vielleicht waren ihm die Fachbegriffe nicht geläufig, vielleicht war sie aber auch einfach sturer und hintertriebener, als er sich das vorgestellt hatte. Immerhin hatte er es nur einmal ansprechen müssen und sie überraschte ihn gerade mal drei Tage später in Strapse. Schwarz war die Wäsche auch und eigentlich hätte Siegmar jetzt nichts mehr zu meckern gehabt. Betont sexy stolzierte sie in ihrem neuen Outfit vor ihm auf und ab. Sie erwartete zu Recht erhöhte Aufmerksamkeit und ein wenig Dankbarkeit von ihm.

Doch Siegmar war eher frustriert. Sie hatte ihre Miederhose gegen so einen massiven Oma-Hüfthalter, aber immerhin in schwarz, ausgetauscht. Das war jetzt nicht wirklich das, was er gewollt hatte. Sie kräftig gebaut, das mochte er auch, aber das musste sie ja nun nicht noch durch solche Panzerwäsche unterstreichen. Ein bisschen was Französisches, was Leichtes und Zartes, danach hätte ihm der Sinn gestanden. Egal, er musste anerkennen, welche Mühe sie sich gegeben hatte.

Ihr hingegen schien dieser Hüfthalter so gut zu gefallen, dass sie ihn beim Sex gleich anließ.

„Ist gar nicht so unpraktisch“, stellte sie nach dem Sex fest. „Macht einen festen Po und man muss ihn beim Sex nicht einmal ausziehen.“

Das etablierte den Hüfthalter jetzt als ständigen Begleiter für die erwartungsfrohen Tage. Zumeist waren das die Wochenenden, an denen sie ausgingen. Und wenn er sie mal überraschend beglücken wollte, dann huscht sie schnell noch mal ins Bad und legte fix ihren Liebestöter an. Er hatte ja schließlich gesagt, dass er Strapse mochte.

Lange ging das natürlich nicht gut, dann legte Siegmar die Karten auf den Tisch. Also String-Tanga und Co, das war doch eher das, was ihm vorschwebte. Die zeichneten sich ja auch nicht so sehr unter ihren engen Hosen ab, wie ihr geliebtes Miederzeugs. Lotte schaute ihn nur traurig an.

„Bin ich dir zu dick?“

„Nein um Gottes Willen, versteh das doch jetzt nicht falsch. Ich mag nur diese Oma-Wäsche nicht!“

„Verstehe“, sagte Lotte eher ein- als dreisilbig.

Damit war die Sache klar. Lotte war sauer. Eigentlich das erste Mal in ihrer Beziehung und Siegmar gefiel dieser Gedanke nicht. Er wollte seine gut laufende Beziehung nicht an einer Unterhose scheitern lassen.

„Vielleicht nur, wenn du Hosen trägst oder so?“ bot er an.

Sie schwieg.

„Nur, weil sich diese anderen Hosen so abzeichnen!“

Er musste diese Geschichte dringend von der Beziehungsproblematik, auf eine schlichte Frage der Ästhetik reduzieren. Sonst hatte er gleich ausgespielt.

„Also ich will keinen Streit“, sagte Lotte und Siegmar wusste, dass, egal was sie sagte, er zustimmen musste, wenn er keinen ernsthaften Krach riskieren wollte. Frauen mochten es nun mal nicht, wenn es um ihre Äußerlichkeiten ging.

„Also im Bett trage ich, was du willst. Latex, Leder oder String-Tanga, wenn es dir Freude macht, aber ansonsten ziehe ich an, was ich will, und wenn dir das nicht passt, ...“

„Gut!“ unterbrach Siegmar sie schnell. Den abschließenden Konditionalsatz wollte er jetzt gar nicht hören. „So war es ja auch gar nicht gemeint!“

„Also kein ewiges Gemecker mehr an meiner Art mich zu kleiden?“ fragte Lotte ihn zur Sicherheit nochmal.

„Ewiges Gemecker?“ dachte Siegmar. Er hatte das eigentlich zum ersten Mal angesprochen. Na gut, zum zweiten … Herrgott, konnte er denn nicht mal ... „Ich liebe dich, egal, was du anziehst!“ antwortete Siegmar lieber kleinlaut, anstatt in ungesunde Besserwisserei zu verfallen.

Wie viel es jetzt ausmachte, dass Siegmar in diesem Zusammenhang das erste Mal das Wort „Liebe“ während ihrer Beziehung ausgesprochen hatte, konnte er im nächsten Moment am eigenen Leibe erfahren. Lotte zog ihn heftig an sich heran und küsste ihn leidenschaftlich. „Ich liebe dich auch!“

Sie zog ihn hinter sich her ins Schlafzimmer. „Morgen kaufe ich mir einen String-Tanga! Versprochen!“

Eine Stunde später war der Ärger wie weggeblasen. Lotte war ... unbeschreiblich gewesen. Einem solchen Anfall von Leidenschaft hätte ein String-Tanga wohl eh nicht standgehalten.

*

Natürlich trug Lotte ihren lila String-Tanga nie. Nicht freiwillig. Nicht von sich aus. Es war auch verboten darüber zu reden. Und Siegmar hatte sich längst mit ihrer Wäsche abgefunden. Seine Beziehung zu Lotte war in ein Stadium getreten, wo Äußerlichkeiten nun wirklich zur Nebensache wurden. Zum Reiten lernen hatte er sich zwar noch nicht überreden lassen, aber das Wandern hatten ihm Lottes kräftige Waden schon bald schmackhaft gemacht. In der Regel ging sie vor und sie hatte eine Vorliebe für die Berge, sowie für dreiviertellange Wanderhosen. Da folgte er dem Tonus ihrer Waden gern.
So kam es, dass er ganze Wochenenden damit zubrachte, hypnotisiert hinter zwei strammen Waden her zu kraxeln, auf Berge hinauf, die er eigentlich nur von Postkarten kennen wollte.

Mit der zunehmenden Tiefe ihrer Beziehung stieg auch die Höhe der Bergkämme an, die es zu bezwingen galt. An diesem Wochenende hatte sie ihn überredet eine Tour der Schwierigkeitsstufe vier anzugehen. Das hieß für Siegmar in erster Linie eine lange Durststrecke bis zum ersten erholsamen Weizen. Das würde dann aber umso besser schmecken, versicherte ihm Lotte.

Er tat ja alles für diese Frau. Als sie jedoch über den ersten Höhenkamm kletterten, war Lotte schon ein gutes Stück voraus. So schwer war die Tour nun nicht, dass man sich sichern musste. Jedenfalls nicht, wenn man auf dem Weg blieb. Aber die Aussicht auf das Weizen und die mangelnde Führung durch Lottes Waden, verführten Siegmar den Weg ein wenig abkürzen zu wollen.

Dass es gleich neben der gekennzeichneten Route so steil hinab ging, hatte Siegmar sich nicht vorstellen können. Auch nicht, wie locker das Geröll hier abseits des Weges war.

„Lotte!“ schrie Siegmar, als er den Halt verlor und in ein Loch neben dem Felsenkamm rutschte.

Wer zum Teufel hatte hier ein Loch gebuddelt? Aber es war nicht gebuddelt worden, es war einfach ein natürlicher kleiner Krater zischen zwei Felsmassiven. Und Siegmar steckte darin fest. Er rief nach Lotte und versuchte die steilen Geröllwände wieder hinauf zu klettern. Unmöglich! Es trennten ihn gute vier Meter von der Kammkante, wo er wieder festen Halt hätte finden können.

Und wie es so Gottes ureigener Humor war, grummelte es in diesem Moment bedrohlich in der Ferne. Da zog wohl ein Donnerwetter auf.

„Lotte!“ schrie Siegmar verzweifelt. Die Naturgewalten konnten einem schon Angst machen, wenn man in einem Felsloch festsaß.

„Lotte!“

„Was ist denn?“ fragte eine wohlbekannte Stimme ganz in der Nähe. „Was machst du denn da unten?“

„Ich bin abgerutscht und komme nicht wieder hoch!“

Es tat gut Lottes Stimme zu hören. Aber es war nun mal eine Tatsache, dass sie wandern und nicht klettern gegangen waren. Sie hatten kein Seil dabei und das Gewitter kam auch immer näher.

„Wie bist du denn ...?“

„Frag nicht und hilf mir hier raus!“ Siegmar hatte jetzt wirklich nicht die Nerven, sich aus Beziehungsgründen als der Männerdepp darzustellen.

„Wie soll ich dir denn helfen? Ich habe kein Seil mit!“

„Lass dir was einfallen! Du bist doch der Wanderexperte!“ Siegmar war panisch genervt. Nicht nur, dass er ferner den je von seinem Weizen war, nein, es war auch schon spät, und die Hütte, wo sie übernachten wollten, könnten sie wohl kaum noch vor Sonnenuntergang erreichen.

„Vielleicht, wenn du ein paar Steine auftürmst, bis du an den Kamm kommst!“ schlug Lotte vor.

„Das sind drei Meter!“, schnauzte Siegmar sie an. „Wie soll ich denn hier vier Meter Geröll auftürmen?“

„Warte mal!“ Lotte verschwand von der Felskante.

„Lotte!“

„Ja, ja, einen Moment!“

Lotte tauchte wieder auf. „Hier!“ Sie hielt ihm ihre Wanderhose hin, die sie an einem Hosenbein festhielt. „Versuch dich damit hochzuziehen!“

Frauen und Physik. Siegmar war kurz vor dem Verzweifeln.

„Die ist zu kurz!“

„Dann nehmen wir deine noch dazu!“ schlug Lotte vor.

„Die habe ich doch hier unten!“ erklärte Siegmar und schnappte fast über. Frauen! Einmal nachdenken, bevor man einen Vorschlag macht.

„Dann wirf sie mir doch hoch und ich binde sie zusammen!“

„Ich ...!“ Das könnte funktionieren. Genervt zog Siegmar seine Hose aus. Das Werfen war allerdings gar nicht so einfach. Doch beim dritten Versuch hatte Lotte die Hose geschnappt.

Wenn das nicht klappte, dachte Siegmar, würde man seine halb entblößte Leiche hier finden und sich wohl das Maul darüber zerreißen, wie er in so eine dumme Lage gekommen war.

„Ich lasse sie jetzt runter.“

„Toll“, rief Siegmar. „Da fehlt ein halber Meter.“

„Dann spring! Ich halte gut fest!“

Allein das glaubte Siegmar nicht. Noch frustrierender war aber die Erkenntnis, dass er sich auf dem losen Boden wohl eher die Füße brechen würde, als dass er das herunterbaumelnde Hosenbein zu fassen kriegte.

„Das klappt nicht. Schmeiß mir bitte meine Hose wieder runter.“

Auf keinen Fall wollte Siegmar hier ohne Hose sterben.

„Bau dir doch jetzt noch einen Turm aus Steinen!“ schlug Lotte unerschüttert vor.

„Das ...! Probiere ich mal“, vollendete Siegmar den Satz verzweifelt. Wie konnte er nur in eine Situation geraten sein, in der sein Leben von einer Frau abhing. In den letzten Jahren war er immer nur mit seinen Kumpels unterwegs gewesen, meistens in Kneipen, da war nie irgendwas passiert.

Die Steine hielten einfach nicht. Immer, wenn er versuchte auf den kleinen Turm zu steigen, brach die Konstruktion klaglos unter ihm zusammen. Es fehlten einfach 50 Zentimeter und er war schlicht nicht in der Lage, aus einem Haufen Geröll etwas zu konstruieren, was ihm weiter half.

„Warte mal! Ich hab eine Idee!“

Nicht lange und Lotte ließ die zusammengebunden Hosen erneut zu ihm hinunter. Doch diesmal waren sie lang genug. Wie zum Teufel hatte sie das geschafft? Siegmar kam ganz knapp mit der Hand an das Hosenbein heran. Das könnte reichen.

Er schaute hinauf und sah, dass die beiden Hosen nun von Lottes hautfarbenem Panzerhöschen zusammengehalten wurden.

Vorsichtig zog Siegmar an dem Hosenbein. Es gab nach. Aber nur ein wenig, dann vertraute er den Hosen ganz langsam und vorsichtig sein ganzes Gewicht an. Als er merkte, dass Lotte und ihr Höschen sein Gewicht halten würden, kletterte er mit angespanntem Misstrauen, daran die Felswand hinauf. Er konnte es kaum fassen. Sein Leben hing doch tatsächlich von der Stabilität der Unterhose seiner Frau ab.

Lotte keuchte. Sie hatte sich mit beiden Beinen gegen einen Felsen auf dem Kamm gestemmt, um sein Gewicht überhaupt halten zu können.

So erschöpft wie er war sie aber nicht, als er endlich keuchend neben ihr auf dem Boden kroch. Sie hätte ihn wohl noch eine halbe Stunde so halten können mit ihren kräftigen Waden und Oberschenkeln.

„Bist du verletzt?“ fragte sie und fing an die Hosen wieder zu entknoten.

„Nein!“ antwortete Siegmar. Obwohl das nicht stimmte. Sein Stolz hatte schon einiges abgekriegt. „Alles gut!“

Lotte lachte. „Ist nicht mal ausgeleiert!“ stellte sie zufrieden fest, als sie sich wieder in ihr Miederstück quetschte. „Siehst du! Zusammen sind wir so gut wie unschlagbar“, erklärte Lotte ihre Beziehung für endgültig im Sinne des Vertrauensverhältnisses.

„Und jetzt stell dir mal vor, ich hätte so einen lächerlichen String-Tanga getragen! Dann wärst du jetzt mit Sicherheit tot!“

Siegmar schluckte trocken. Er sah schon die Schlagzeile in der Lokalpresse: „Miederhose rettet Tanga-Liebhaber das Leben!“

Damit war diese Sache wohl ein für alle Mal entschieden. Lotte trägt halt Miederhosen.

Toll, dachte Siegmar in hintersten Winkel seines Hirns. Jetzt waren sie nicht nur so gut wie verheiratet, sondern sein Leben hing für immer von dem Modegeschmack seiner zukünftigen Frau ab. Trotzdem. Irgendwie wirkte diese Zukunft gar nicht so sonderlich düster. Das einzige was ihm noch fehlte war ein Paar passende Pantoffeln.

Lotte trägt halt Mieder (111) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.