Fräulein Möllers Büro

Fräulein Möller rückte die Lesebrille zurecht und warf einen missmutigen Blick auf den Stapel mit Zeitschriften. Gleich unter dem Stern der letzten Woche schaute die Ecke eines dieser Schmuddelblätter hervor. Wahrscheinlich Praline oder etwas Derartiges. Mit spitzen Finger zog sie das Heft ein Stück aus dem Stapel heraus, so dass sie den Titel entziffern konnte: Wonnebusen.

„Ist das hier üblich?“, fragte sie und deutete auf das Magazin. „Dass Sie hier solche Sauereien herumliegen lassen?“

„Aber Frau Möller!“ entrüstete sich Sengelmann.

„Fräulein Möller!“ korrigierte sie ihn sofort.

„Ja, ja. Fräulein Möller“, winkte Sengelmann ab. „Wenn’s genehm ist: Das hier ist mein Büro. Und da lese ich, was mir gefällt. Wenn das Ihrem prüden Geschmack zuwider ist, dann …“

„Keineswegs Herr Sengelmann, keineswegs. Wenn Sie sich dafür interessieren, ‚warum die Monika so schwer zu schleppen hat‘, so ist das allein Ihre Sache. Wenngleich ich feststellen muss, dass Ihr Geschmack doch sehr zu wünschen lässt.“

„Ich denke, Sie sollten mir jetzt ihre Spesenabrechnung geben und sich wieder an die Arbeit machen, Fräulein Möller.“ Sengelmann schob die Zeitschrift wieder unter den Stapel zurück und ordnete ihn so, dass man von dem Magazin nichts mehr sah. Fräulein Möller öffnete daraufhin den Aktendeckel, den sie unter dem Arm bei sich hatte und überreichte Sengelmann einen ordentlich gestapelten Haufen Quittungen.

„Ich hoffe, Sie werden damit glücklich“, grunzte sie und machte abrupt kehrt.

„Das werde ich Fräulein Möller, das werde ich!“ rief Sengelmann ihr nach, als sie sein Büro verließ.

Natürlich hatte Sengelmann etliche Belege zu bemängeln. Wenn man die unteren Chargen schon mal auf eine Fortbildung schickte … Glaubte diese dusselige Möller tatsächlich, dass sie ihre Wochenendlektüre von der Firma bezahlt bekam? Vogue, Marie Claire und Madame. Alles nur vom teuersten. Und dann noch ein Fernglas! Was zum Teufel brauchte diese Frau ein Fernglas. Bei einer Fortbildung in Bottrop. Wutschnaubend machte sich Sengelmann auf den Weg zum Möller’schen Büro. Diese Gewitterziege hatte eines der ganz schattigen Büros zum Innenhof hin. Der Raum war düster und überladen mit Aktenordnern und Regalen. Mitten drin, an einem uralten, zerkratzten Holztisch, bei dem schon an etlichen Stellen das Furnier abgeplatzt war, hockte Fräulein Möller über einem Stapel von Reklamationen und Beschwerden.

„Nun, dann haben Sie wohl die Betriebsanleitung nicht gelesen. … Ach was, da steht doch ganz deutlich, dass Sie in dem Gerät keine normalen Batterien, sondern ausschließlich Akkus verwenden dürfen!“

Sengelmann stand ungeduldig vor Möllers Schreibtisch und hoffte, dass sie mit dem Telefonieren bald fertig wäre.

„Sie können gerne zum Verbraucherschutz gehen, aber in ein Mobiltelefon gehören nun mal keine Batterien und das steht auch überdeutlich in der Anleitung.“

Die Möller nickte ihm über die schwere Hornlesebrille hinweg zu. Vielleicht sollte er ihr den ganzen Vorgang einfach auf den Schreibtisch knallen und wieder gehen? Gelangweilt hörte er zu, wie sie unerbittlich weiter telefonierte.

„Dass die Batterien auslaufen, wenn Sie das Gerät auf die Ladeschale stellen, ist doch nun wirklich nicht unser Problem“, erklärte Fräulein Möller ungeduldig.
Sengelmann ließ den Blick aus dem viel zu kleinen Fenster über den tristen Innenhof schweifen. An der Fensterreihe gegenüber blieb sein Blick hängen. Da war vor zwei Monaten ein Fitnessstudio eingezogen. Junge Stretchbodies schwangen ihre Glieder im Gleichschritt zu unhörbarer Musik. Auf und ab, rechts und links, hin und her. Sengelmann hatte die mausgraue Möller Sekunden später total aus seinem Bewusstsein gestrichen. Er zuckte heftig zusammen, als ihn etwas am Ellenbogen traf.

„Wenn ihr Gerät jetzt von Batteriesäure zerfressen ist, fällt das ganz sicher nicht unter die Garantieleistung. So etwas bezeichnen wir als Bedienungsfehler. Als groben Bedienungsfehler. Da wird jede Garantie hinfällig.“

Fräulein Möller grinste Sengelmann aufmunternd an. Sengelmann verstand nicht. Dann sah er das Fernglas, das Sie ihm hinhielt. Für was hielt ihn diese provinzielle alter Jungfer eigentlich? Sengelmann wollte ihr einen Vogel zeigen.

„Da wird Ihnen auch ein Anwalt nicht helfen können. Es sei denn, der ist elektronisch sehr versiert und kann Ihnen das Gerät reparieren.“

Fräulein Möller drängte Herrn Sengelmann das Fernglas förmlich auf. Sie drückte es ihm geradezu in die Hand. Und als er unschlüssig mit der optischen Hilfe in der Hand herumstand, deutete sie mit der freien Hand aus dem Fenster. Wenn diese Volksschullehrerin glaubte, sie könne ihn hier in eine peinliche Lage bringen, hatte sie sich geschnitten. Sengelmann nahm das Fernglas und sah zu allem entschlossen hinüber in das Fitnessstudio. Sie sollte mal nicht glauben, dass ihm sein Voyeurismus irgendwie peinlich wäre. Ihm nicht.

Tatsächlich tat das Fernglas gute Dienste. Die knackigen Dinger da drüben hüpften ihm mit weichen Hüften und wogenden Oberweiten geradezu auf der Nase herum. Wieder zupfte die Möller Sengelmann am Jackett. Sie war mit dem Telefonhörer in der Hand hinter ihn getreten.

„Ich weiß, dass die Akkus und die Batterien dieselbe Größe haben, aber das eine sind nun mal Akkus und das andere Batterien. Das hätte Sie doch wohl schon am Preis merken können.“

Fräulein Möller zeigte energisch auf ein anderes Fenster in der gleichen Etage gegenüber. Zögernd folgte Sengelmanns Blick ihrem Arm. Irgendwie erwartete er die ganze Zeit, dass die Sengelmann sich über ihn lustig machte. Jetzt war es bestimmt soweit. Gleich würde er auf der gegenüberliegenden Seite das Fenster irgendeiner Frauengruppe erblicken, wo drei kampfbereite Feministinnen, allesamt promovierte Juristinnen, ebenfalls mit Ferngläsern bewaffnet, nach eventuell zu verklagenden Spannern Ausschau hielten.

Aber Sengelmann hatte sich geirrt. Grundlegend geirrt. Womöglich sogar in Fräulein Möller. Nachdem er mit dem Fernglas an einer Wasserdampfwolke vorbeigezogen war, starrte er schnurstracks durch die weit geöffneten Fenster eines Duschraumes. Sengelmann schluckte trocken und starrte auf die erste Frau ganz rechts, die sich ungebührlich lasziv einseifte. Fräulein Möller war dicht hinter ihn getreten und schien ihm direkt über die Schulter zu gucken. Normalerweise hätte ihn das sicherlich gestört, aber in diesem Moment hatte er eine Frau entdeckt, die sich unter der Dusche einer Nassrasur im Intimbereich unterzog. Sengelmann traute seinen Augen nicht. Da drüben kicherten nackte junge Frauen unter der Dusche und schienen sich angeregt zu unterhalten, während sie sich die Schamhaare rasierten.

„Hören Sie!“ rief die Möller energisch in den Hörer. „Jeder Idiot weiß, dass man normale Batterien nicht aufladen kann.“

Sengelmann spürte einen sanften Druck vorne im Schritt. Ihm wurde klar, dass er eine Erektion bekam. Und ihm wurde klar, dass Fräulein Möller das merkte. Sie merkte es, weil sie nämlich ihre Hand darauf gelegt hatte.

Sengelmann versuchte zu überlegen. Es ging nicht, sein Gehirn hatte sich einfach abgeschaltet. Er starrte nur stumm durch das Fernglas, beobachtete Frauen, die sich bei ihrer täglichen Körperhygiene gegenseitig behilflich waren. Fortwährend pumpte er dabei immer mehr Blut in das Stück von ihm, das Fräulein Möller mit ihrer Hand halb umklammert hielt.

„Es ist mir völlig egal, ob Sie uns verklagen. Da scheiß’ ich doch drauf!“ zischte Fräulein Möller ins Telefon gleich neben Sengelmanns Ohr und rieb ihr Becken kreisend an seinem Hintern. In ihrer Hand begann sein Blut zu pulsieren und ihr Druck auf seine Hose wurde rhythmisch stärker.

„Dann kaufen Sie in Zukunft eben woanders. Wenn Sie zu blöd sind ihren Akku aufzuladen, ist das doch nicht mein Problem.“

Das Massieren war gerade rechtzeitig einem Kneten gewichen. Da drüben zupfte eine der Frauen unmotiviert an dem Piercing-Ring in ihrer Schamlippe he­rum. Wahrscheinlich hatte sich der Stecker entzündet. Schnell sah Sengelmann woanders hin.

„Nun kommen Sie schon!“ Sengelmann war nicht sicher, ob die Möller ihn meinte oder noch mit dem Telefon beschäftigt war. Er war auch nicht sicher, ob sie die Feuchtigkeit spürte, die sich gerade in seiner Hose ausbreitete. Aber es war ziemlich wahrscheinlich, weil sie ihn in diesem Moment losließ. Sengelmann ließ das Fernglas sinken und stellte es auf der Fensterbank ab. Er vermied es, Fräulein Möller dabei anzusehen. Sie widmete sich wieder ganz ihrem Telefonat.

„Ja, genau. Sie mich auch!“

Sengelmann griff blindlings nach der Aktenmappe und versuchte, das Büro zu verlassen. Sollte die Möller doch mit den Zeitschriften glücklich werden. Die paar Mark, darauf kam es nicht an, wenn er deshalb nicht mit der Möller darüber diskutieren musste. Schon gar nicht jetzt.

„Auf Wiedersehen!“ Sengelmann hörte das Klacken des Telefonhörers auf der Gabel. Er drückte leise die Türklinke runter und wollte sich schnellstens verdrücken.

„Ach Herr Sengelmann!“ rief ihm Fräulein Möller nach. Sengelmann blieb wie angewurzelt stehen, aber drehte sich nicht um. „Das hier ist übrigens das einzige Büro mit Blick auf die Duschen. Aus den anderen weiter oben sieht man nicht viel.“

Sengelmann nickte wortlos und machte sich auf den Weg zur Toilette.

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