Ja, wohin schiessen die denn?

Kurzkrimi

Es war so gegen 23 Uhr, als Henry das Gelände der Tankstelle betrat. In den Tiefen der Dunkelheit strahlte ihm das Licht des Tankstellenshop warm und freundlich entgegen. Doch mit der Freundlichkeit war es gleich vorbei. Henry griff in seine Tasche. Kühl lag der Kolben seiner Walther P88 in seiner Hand. Er musste sich ranhalten. Gleich würde der Shop schließen, dann konnte man sein Benzin nur noch durch die Klappe hinter dem Sicherheitsglas bezahlen.

Der Laden war viel zu voll für diese Zeit. Sechs Männer durchforsteten die Regalreihen. Einer blätterte in den Zeitschriften herum. Zwei unterhielten sich hinten an der Kühlbox. Die anderen kramten in den Süßigkeiten-Ständern und bei den Getränken. Henry hatte schon mehrere Tankstellen überfallen. Meist war er ganz allein mit dem Kassierer. Aber es war auch schon vorgekommen, dass zwei bis drei Kunden dabei waren. Niemals jedoch sechs. Henry stellte sich ebenfalls zu den Zeitschriften und blätterte unmotiviert in einigen Fernsehzeitschriften herum. Aufmerksam beobachtete er die anderen Kunden im Laden. Doch die machten noch keine Anstalten zu gehen. Das war überhaupt eine komische Mischpoke in diesem Laden. Henry schaute hinaus. Nur ein Auto stand an der Zapfsäule, und das wurde gerade von einem jungen Mann betankt.

„So Leute, wir machen gleich zu, ja“, sagte der Kassierer. Und jetzt kam auch noch der Mann von der Zapfsäule herein. Aber er bezahlte nur kurz und mürrisch seinen Sprit und ging sofort wieder. Die anderen machten keine Anstalten zu gehen. Es half nichts. Henry musste es riskieren, wenn er heute ohne Kohle nach Hause käme, würde das seiner Frau gar nicht passen. Es war Monatsende und sein Gehalt hatte er schon lange verzockt. Die Haushaltskasse war leer und Inge maulte. Sechs Typen hin oder her, er musste endlich etwas unternehmen.

Ruhig ging er hinüber zum Kassierer, zog seine P88 und hielt sie so, dass sie möglichst nur von dem Kassierer gesehen werden konnte.

„Mach jetzt keinen Lärm“, zischte er dem jungen Burschen zu. „Dann passiert keinem was! Gib mir einfach, die Kasse und gut ist.“

Der Junge hatte Angst, und das war gut so.

„Alles was in der Kasse ist?“ fragte er eine Spur zu laut.

Nervös drehte sich Henry um. Alle sechs Männer starrten ihn durchdringend an. Henry hob die Waffe hoch, so dass alle sie sehen konnten. „Das ist ein Überfall“, rief er laut: „Keiner rührt sich und nichts passiert.“

Die Männer standen still auf ihren Positionen, keiner rührte sich, aber alle starrten ihn ausdruckslos an. Das gefiel Henry nicht. Er drehte sich zum Kassierer und schnauzte: „Mach schon!“

Außer dem Geräusch der aufspringenden Kasse, vernahm Henry noch ein weiteres Geräusch. Es klang wie das sechsfache Echo, der vorschnellenden Kassenschublade. Henry wusste aber, dass es das nicht war. Dieses Geräusch verursachte in Henrys Unterleib einen heftigen Harndrang. Es war der Klang eines einrastenden Gewehrverschlusses. Henry wendete sich wieder den Kunden zu. Statt in die Gesichter der Sechs blickte er jedoch in drei riesige Öffnungen von Pump-Action Schrot-Gewehren und auf drei silberne 0.44 Magnum Läufe. Henrys Harndruck verstärkte sich zunehmend. Zumal seine P88 lediglich eine Schreckschusspistole war. Ein simpler Nachbau aus dem Kaufhaus.

„Lass fallen“, knurrte ihn einer mit einer Pudelmütze auf dem Kopf an.

Sekundenlang standen sich die ungleichen Gegner Auge in Auge sprachlos gegenüber. Eins war Henry völlig klar. Ins Gefängnis ging er nicht mehr. Zweimal hatten sie ihn schon gekrallt und für über ein Jahr eingesperrt. Wenn sie ihn jetzt erwischten, war alles aus. In den Knast, das konnte er einfach nicht mehr aushalten. Sollten sie ihn lieber erschießen. Er schaute in die Gesichter der Männer. Alle schienen entschlossen und ihrer Sache sicher. Henry hatte keine Chance. Trotzdem hob er die Waffen, zielte auf den ihm am nächsten Stehenden und drückte ab.

Alles ging sehr schnell. Eigentlich wollte er sich ja erschießen lassen, doch im letzten Moment siegte sein Überlebenswille. Nachdem er den Hebel durchgezogen hatte, und der erste Knall ertönte, sprang er geduckt hinter ein Regal. Schon brach um ihn herum die Hölle los. Aus sechs Rohren wurde wild gefeuert. Doch sie hatten ihn nicht erwischt. Henry lugte hinter seinem Regal vor. Sofort ging wieder das Geballer los. Die sechs hatten sich ebenfalls hinter Regalen verschanzt. Wie lange konnte es wohl dauern, bis sie merkten, dass er nur mit Platzpatronen schoss? Hinter seinem Rücken war der Weg frei bis zur Tür. Aber das waren fünf Meter, und er würde sich auf jedem Meter eine Kugel einfangen. Alles war ruhig. Der Kassierer war unter den Tresen gerutscht und schien mit der Polizei zu telefonieren.

„Geben Sie auf!“ schrie einer herüber. Aber Henry dachte gar nicht daran. Er tauchte hinter seinem Regal hervor und schoss dreimal in schneller Folge. Die anderen erwiderten das Feuer. Und wieder Stille. Bei so viel Glück würde es Henry auch bis zur Tür schaffen. Im Hintergrund waren schon Martinshörner zu hören. Höchste Zeit, alles zu riskieren! Henry sprang auf, jagte die letzten beiden Luftgeschosse in den Raum und rannte los. Wieder heftiger Beschuss, aber nicht eine Kugel traf ihn. Die automatische Glastür ging nicht schnell genug auf. Henry durchsprang die Scheibe, landete auf einem Haufen Splitter, zog sich ein paar Schnitte zu, wollte gerade aufspringen und weiter laufen. Da ergriffen ihn starke Hände, knickten seine Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an.
Die hinzugekommenen Streifenbeamten betraten den Tankstellenshop und fragten: „Hier alles in Ordnung?“

„Klar“, rief einer zurück. „Was soll schon passiert sein. Wir hatten ja nur Platzpatronen in den Knarren.“

„Aber in der nächsten Drehpause wärmen wir uns woanders auf. Zu gefährlich hier“, fügte ein anderer hinzu.

Der Polizist lachte laut auf. „Ganz schön gewagt, der hätte ja auch eine echte Pistole dabei haben können.“

„Wir ja auch“, riefen die Schauspieler zurück. Henry konnte es nicht fassen; sie hatten sich fast zwei Minuten lang mit Platzpatronen beschossen.

Ja, wohin schießen die denn? (63) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.