Der Rumkuchen

Orangeat? Zitronat? Och nein, wirklich nicht! Roland konnte das Zeug nicht leiden. Wenn man da drauf biss, dann klebte das zäh am Zahn, hatte einen bitteren Nachgeschmack und es gehörte seiner Meinung nach in gar keinen Kuchen. Auch nicht in einen Rumkuchen.

Warum hatte er bloß, Ulrike einen solchen Kuchen versprochen? Gut, er selbst mochte alle Arten von Napfkuchen, aber eben nur ohne Zitronat und Konsorten.

Roland sah auf das Plastiktütchen mit den gelben und orangenen Stückchen, schon fertig vorgemischt und seufzte. Hoffnungsvoll sah er nach dem Verfallsdatum. Der Kram hatte doch bestimmt schon jahrelang im Küchenschrank gelegen. Aber die kandierten Fruchtstücke waren zäh. Das Haltbarkeitsdatum lief noch ganze 8 Monate. Vielleicht sollte er erst mal die Sultaninen in den Teig schmeißen. Er mochte Sultaninen. Zwei naschte er, dann gab er die ganze Tüte in den Teig. Das waren mehr als die doppelte Menge.

Vielleicht waren das zu viele. Sicher war, dass da kaum noch Platz für dieses widerliche Orangeat war. Aber andererseits Geschmack musste sein.

Roland sah sich um. Ja, warum nicht ein wenig Orangenschale raspeln. Ganz klein natürlich. Dieses Orangeat war ja konzentriert, oder? Vorsorglich raspelte er die Schalen von drei ganzen Orangen in den Teig. Und natürlich Rum. War ja schließlich ein Rumkuchen. Rum-Aroma? Das war doch nichts.

Wenn er sich schon hinstellte und seiner Frau einen Kuchen zum Adventskränzchen buk, dann wollte er es aber auch ordentlich machen. Also einen guten Schluck Captain Morgan rein.

Er probierte den Teig mit dem Finger. Hmm, lecker. Roland verglich den Teig mit dem Originalgeschmack des Rums und nahm zur Sicherheit noch einen zweiten Schluck aus der Flasche. Der Rum allein war deutlich besser. Also lieber noch ein wenig nachgewürzt.

Inzwischen wirkte der Teig allerdings etwas flüssig, wahrscheinlich brauchte es etwas mehr Mehl, weil ja der Rum den Flüssigkeitsanteil überproportional erhöht hatte. Als Physiker hatte er natürlich kein Problem damit das Mischungsverhältnis völlig neu zu berechnen. Nach zehn Minuten hatte er das Ergebnis: Er brauchte noch 12,5 Gramm Mehl, eben so viel Zucker, 1/8 Ei und 4,4 Gramm Butter.

Es war ein schlimmeres Chaos in dieser Küche als im Labor. Schließlich holte er eine Briefwaage aus seinem Arbeitszimmer, weil er die Menge eines Achtel Eis auf der Küchenwaage einfach nicht zustande brachte.
Als er das Ei endlich abgemessen hatte, fiel ihm auf, dass das Verhältnis von Eigelb zu Eiweiß nicht wirklich dem Verhältnis einen ganzen Eis entsprechen konnte. Wie sollte er das Problem lösen? Das Eiweiß hing irgendwie immer zusammen und das Eigelb waberte irgendwo in der Schale herum.

Hatte das überhaupt einen Einfluss? Roland holte seinen Laptop und versuchte zu recherchieren, welche unterschiedlichen Rollen Eigelb und Eiweiß beim Backen spielten.

So richtig schlau wurde er aber nicht. Er nahm noch einen Schluck aus der Rumflasche und grübelte.

Dann kam ihm die Idee.

Er nahm ein neues Ei verquirlte es und maß erst dann ein Achtel ab. Perfekt! Er gab das Ei in die Teigschüssel, die jetzt seit guten dreißig Minuten ungerührt auf dem Küchentisch gestanden hatte.

Oben auf dem Teig hatte sich eine kleine Rumpfütze gebildet. Das war kein gutes Zeichen, oder? Egal, Roland stellte den Rührmixer auf höchste Stufe und verrührte den Teig wieder gründlich. Von den Rosinen war nun kaum noch was zu sehen. Vielleicht war das der falsche Aufsatz?

Er sah sich den Küchenhelfer genauer an. Aber eigentlich konnte man da nicht viel austauschen. Ein langer Stab mit einem rotierenden Messer unten? Da gab es keine Optionen!

Was schon? Der Geschmack war ja jetzt drin, ob man die Rosinen sah oder nicht. Die Gugelhupf-Form war gut eingefettet und er füllte den Teig in die Backform.

Der Ofen hatte die entsprechende Temperatur, prima! Roland hatte sich für Oberhitze entschieden, weil ja unten überall die Backform war. Als Physiker kannte er schließlich den Zusammenhang zwischen einer Strahlungsquelle und einer Isolationsschicht. Mit der Oberhitze sollte er ein optimales Ergebnis erreichen.

Noch knapp dreißig Minuten und er hatte seinen ersten Kuchen gebacken.

So schwer war das mit dem Kochen doch gar nicht. Reine Physik, weiter nichts. Na gut, ein bisschen Gefühl für die richtigen Zutaten gehörte wohl auch dazu. Zitronat!?


*

Roland schreckte zusammen. Aber es war nicht die Klingel des Backofens. Das war die Haustür. Vera, eine Freundin von Ulrike war etwas früh dran. Gut, dass der Kuchen auch jeden Moment fertig sein musste. Von wegen, das bekäme er nicht hin. Er hatte es versprochen und er hatte es vollbracht.

Als dann auch noch Korinna klingelt, traf endlich seine Frau ein. Sie hatte diesen späten Termin gehabt und ihn deshalb gebeten den Kuchen für ihre Adventsrunde zu backen. Genau genommen, hatte sie ihn gebeten und dann vorgeschlagen doch lieber einen fertigen Kuchen vom Bäcker mitzubringen.

Roland hatte empört abgelehnt. Er wäre ja wohl in der Lage einen simplen Kuchen für die Damen zu backen. Letztlich hatte er darauf bestanden, sein Können unter Beweis zu stellen. Aber er musste versprechen, dass ein Kuchen bereit stünde und seine Frau sich auf ihn verlassen konnte.

„Na Schatz! Hast du den Rumkuchen hingekriegt?“ fragte seine Frau und machte sich daran den Kaffee aufzusetzen.

„Muss jeden Moment fertig sein“, frohlockte Roland. Und tatsächlich in diesem Moment meldete die Uhr im Ofen das Ende der Backzeit.

„Jetzt achte drauf“, rief Roland stolz, öffnete den Offen und griff nach dem Rost auf dem die Backform stand. Noch schneller zog er die Hand wieder zurück und schrie grell auf.

„Nimm doch den Handschuh!“ schrie ihn Ulrike an. „Das weiß doch jeder Idiot, dass das Backblech heiß ist. Sie griff nach Rolands Hand und schaute sich die Verbrennung an. „Unter kaltes Wasser“, kommandierte sie.

„Ja, ja“, maulte Roland und nahm sich erst noch einen Schluck Rum gegen den Schmerz.

„Trinkst du den ganzen Tag Rum?“ fragte Ulrike ungläubig.

„Natürlich nicht!“ empörte sich Roland. „Der ist für den Kuchen. Und jetzt grad mal gegen den Schmerz!“

„Ist ja schon gut!“ winkte Ulrike ab. „Ich hole den Kuchen schon raus.“

Ulrike holte die Kuchenform raus und stellte sie auf einer Herdplatte ab.

„Ist das Schokokuchen?“

„Nein, wieso?“ fragte Roland irritiert zurück.

„Ist vielleicht ein bisschen dunkel!“

Das stimmte die Kruste, die oben aus der Gugelhupf-Form herausschaute sah sehr kross und beinahe Schwarz aus.

„Ein bisschen klein ist der auch!“

„Kann nicht sein!“ behauptete Roland. „Ich habe sogar mehr Teig genommen, als im Rezept stand!“

„Im Rezept?“

Roland verstand Ulrikes Irritation nicht. „Nun hol ihn doch mal aus der Form. Das ist doch bestimmt nur die Oberseite, die ein bisschen viel Hitze abbekommen hat!“

Ulrike stürzte die Form und der Kuchen löste sich problemlos aus der Form. Was allerdings daran lag, das die unteren zwei Drittel noch so gut wie flüssig waren. Auf dem Brettchen lag nun ein verkohlter Kranz, über den sich eine breiige Masse ergossen hatte.

„Rumkuchen!“ scherzte Ulrike gehässig. „Der heißt so, weil da rumschwimmt, ja?“

Roland war fassungslos. Wie hatte das passieren können?

„Was hast du denn da gemacht?“ wollte nun auch Ulrike wissen.

„Keine Ahnung!“ schrie Roland und nahm aus lauter Frust noch einen Schluck aus der Flasche. „Ich habe mich genau an das Rezept gehalten!“

„Was für ein Rezept?“

Roland zeigte auf den Küchentisch, wo ein Buch mit dem Titel „Weihnachtsbäckerei für Dummies“ lag.

Ulrike schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Hörst du eigentlich nie zu, wenn ich dir etwas sage!“ fluchte sie und öffnete den Eisschrank.

„Hier!“ Sie zeigte ihm ein flaches Paket in Kunstoff-Folie eingeschweißt.

„Ein fertiger Kuchenteig! Den solltest du nur in die Form füllen und in den Ofen schieben! Ist das so schwer? Kannst du nicht einmal ...“

Roland nahm einen weiteren überflüssigen Schluck Rum und starrte auf den Küchentisch. In zwei Minuten hatte Ulrike den Teig aus der Folie geholt und in eine andere beschichtete Kuchenform gekippt.
„So!“ schrie sie. Dann brachte sie den Kuchen zum Ofen. Starrte auf die Schalter, schüttelte den Kopf fingerte daran herum und stellte fest: „Egal, mit der Oberhitze hättest du auch den hier auch noch ruiniert!“
Die Ofentür klappte zu. Roland fühlte sich benebelt. Ihm war schwindelig. Er berechnete Astralstrudel in fremden Galaxien und war einfach nicht dafür gemacht um Atome in industriellen Fertigprodukten in vorgegebenen Schwingungen zu versetzten.

Ulrike klappte den Ofen zu.

„So! In zwanzig Minuten ist der Tag gerettet! Das man sich nie auf dich verlassen kann.“

„Ich hab‘s doch nur gut gemeint!“

„Ist schon recht, aber ich hätte den Kuchen doch gleich selbst machen sollen!“

Und noch ein Schluck Rum wurde nötig. Nicht nur, dass Ulrike ihn in Sachen Karriere abgehängt hatte, nein, vermutlich würde er ohne sie auch noch vor dem vollen Eisschrank verhungern.
„Du verschwindest jetzt aus meiner Küche. Geh ins Bett und schlaf deinen Rausch aus. Ich wecke dich nachher, wenn ich dich noch brauche!“

Dann küsste sie ihn versöhnlich lachend auf die Wange und verließ die Küche, um mit ihren drei besten Freundinnen ihr traditionelles Adventkränzchen zu feiern.



Rumkuchen (117) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.