Der Pizzabote

Kurzkrimi

Dieser Roller war eine Katastrophe. Eine echte Katastrophe. Dieses sinnfreie Jaulen, wenn man am Gashahn zog, diese Verweigerung jeglicher, ernstzunehmender Beschleunigung, das Alles konnte lebensgefährlich sein.

Freddy sah den Twingo im letzten Moment. Auf die Bremsen konnte man sich bei diesen Mistdingern eh nicht verlassen. Also Gas geben und mit einem eleganten Ausweichmanöver um den ausparkenden Kleinwagen herum geschlenkert.

So der Plan, doch der Gasgriff machte Freddy wieder einmal einen Strich durch die Rechnung. Beinahe wäre er rechts gegen den parkenden Wagen gedonnert.

Freddy warf der Frau im Twingo einen wütenden Blick zu. Vergeblich. Sie hatte auch das nicht bemerkt. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, aus dem Rückwärtsgang wieder in die Vorwärtsbewegung zu kommen.

Diese Omas im Verkehr brachten ihn noch mal um. Wobei? Ein zweiter Blick machte ihm klar, dass das ein Mann am Steuer war. Einer mit einem Turban. Das hatte ihn wohl dazu verleitet an die ewig gefährliche Großmutter des Ausparkens zu denken.

Gerne hätte Freddy, dem Kerl mal die Stvo erklärt, aber dazu blieb jetzt keine Zeit. Er hatte wieder eine Doppellieferung riskiert und er musste die zweite Pizza innerhalb der nächsten 4 Minuten ausgeliefert haben, wenn er noch was verdienen wollte.

*

168 oder 163? Seine Hand zitterte als er in voller Fahrt einen Blick auf den Lieferschein warf. Dieser verdammte Inder hatte wirklich eine Sauklaue.

Freddy stieg voll in die Eisen, was ihn auch ein wenig später zum Stehen brachte. Hausnummer 78 war die letzte in dieser Strasse. Okay, dachte Freddy. Also 16B.

Es war ein ziemliches Stück zurück. Egal. Wenn jetzt alles gut ging, schaffte er es gerade noch.

Jawoll. 16 a-e. Das musste es sein. Er fuhr mit dem Roller durch den für Pkws abgesperrten Durchgang zu dem Hinterhaus und hielt direkt vor der 16b. Alles super. Dormei, ... Dormei. Keine der Klingeln hatte eine auch nur ähnlich lautende Beschriftung. Dieser verdammte Inder. Warum mussten die immer wieder Lieferdienste aufmachen.

Freddy atmete tief durch, er neigte in solchen Fällen zu unkontrollierbaren Wutausbrüchen. Deshalb hatte er auch seinen Pensionsanspruch bei der Polizei verloren. Gut, eigentlich war das natürlich die Schuld seines Vorgesetzten. Was steckte der auch mit seinem Pimmel in seiner Frau drin und ließ sich dann noch von ihm dabei überraschen. Herrgott, das machte man doch nicht, schon gar bei einem gut trainierten SEK Beamten.

Es musste die unbeschriftete Klingel sein. Eine andere Möglichkeit gab es wohl nicht. Und zu spät wäre er andernfalls sowieso.

*

„Ja!“ kam es blechern aus der Gegensprechanlage.

Immerhin.

„Ich bringe die Pizza!“

„Was? So ein Witzbold! Komm hoch!“

Okay, das hörte sich nach Ärger an. Gut er war jetzt drei Minuten zu spät und er war sicher, dass der Kunde nicht zahlen würde. Innerlich zählte Freddy schon wieder seinen Hormonspiegel runter, denn, wenn er ausrastet, brachte ihn das sicher nicht weiter.

Die Tür im zweiten Stock stand einen Spalt breit offen. Durch den Spalt sah Freddy einen unrasierten Proleten in Jogginghose, der ihn genervt anstarrte.

„Ich bin ein bisschen spät, tut mir leid! Aber der Verkehr …“

„Schon gut! Komm rein“, grunzte der Prolet und machte die Tür ganz auf.

Freddy zögerte. Gewöhnlich bekam er sein Geld an der Tür. Wenn.

„Stell den Karton dahinten auf den Tisch!“

Freddy wollte keine Diskussion. Er betrat den Flur und ging auf das Zimmer zu, das ihm der Prolet gezeigt hatte. Dabei sah er aus den Augenwinkeln in das Zimmer, an dem er vorbei gehen musste.
Das war nicht gut.

In dem Zimmer hatte Freddy zwei nackte Frauen gesehen, die auf einen Glastisch Backpulver vermischten. Ganz sicher nicht zum Backen. Sonst hätten sie wohl kaum einen Mundschutz getragen.
Freddy hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Er legte den Pizzakarton auf dem schäbigen Holztisch ab. Auf dem Sofa, das sicher gestern noch im Regen auf dem Sperrmüll gestanden hatte, saß ein kleiner Italiener mit einem Ziegenbärtchen, der sich konzentriert den Dreck unter Nägeln mit einem Stilett entfernte.

Das war nicht gut.

Der Typ mit der Jogginghose kam ins Zimmer und hielt ein ganzes Bündel Scheine in der Hand.

Das war nicht gut.

Darauf konnte Freddy ganz sicher nicht rausgeben. Seine Hände begannen so sehr zu schwitzen, das er nicht mal mehr eine Münze hätte sicher festhalten können.

Freddy war lange genug bei der Polizei gewesen, um zu wissen, was hier los war. Aber warum liessen die einen Pizzaboten hier rein? Gerade die hätten doch besser an der Tür zahlen sollen, wenn sie sich schon eine Pizza in ihr Drogenlabor bestellen mussten.

Die Prolet schnippte mit einem Finger den Pizzakarton auf.

„Was ist das?“

„Eine Pizza mit Schafkäse, Schinken und Champignons!“

„Das sehe ich auch! Aber wo ist der Cake?“

Okay, jetzt wurde Freddy einiges klar. Die warteten nicht wirklich auf eine Pizza, die warteten auf einen Boten, der ihnen einen neuen Kokacake vermutlich in einem Pizzakarton getarnt liefern sollte.
Aus den Augenwinkeln sah Freddy, wie der Mann in seine Jogginghose griff. Er holte sein Ding raus. Freddy sah sofort, dass es eine vernickelt Browning war. Ein ziemlich altes, aber dafür umso zuverlässigeres Ding. Viele Menschen hätten das sicher nicht geschafft, aber er war gut auf solche Situationen vorbereitet. Da waren die Jungs bei ihm an den falschen Pizzaboten geraten.

Der Tritt erwischte die Waffe noch bevor der Prolet sie ganz aus der Hose gezogen hatte. Dabei schlug Freddy zwei Fliegen mit einem Fuss. Der Kerl hatte morgen mit Sicherheit blaugefärbt Ostereier und er konnte die Waffe nicht in den Anschlag bringen.

Dem Italiener, der schlagartig das Interesse an seinen Fingernägeln verloren hatte, warf Freddy mit einer halben Körperdrehung die frische Pizza, samt Karton ins Gesicht. Wäre er etwas schneller durch den Verkehr gekommen, wäre die Pizza auch noch gefährlich heiß gewesen.

Blitzschnell war Freddy draußen auf dem Flur. Es gab wohl keinen Zweifel, dass er hier so sofort raus musste.

*

Der Typ war ein Schrank und Freddy lief genau in ihn rein. Keine Ahnung, wo der herkam. Er war einfach da. Der Kerl fasste Freddy kaum an, aber schleuderte ihn zwei Meter weit in den Laborraum hinein. Dass er mit der Hüfte heftig an den Glastisch schlug, war sein geringstes Problem. Aber als sein Kopf auf der Platte aufschlug, das tat weh.

Freddys Gesicht landete genau in dem Haufen der Mische mitten auf Tisch. Das Einatmen konnte er nicht verhindern. Sein weißgekalktes Gesicht drehte sich langsam um. Die Taubheit kam schneller als erwartet. Das Licht begann gleißend zu werden. Gut es waren eh nur zwei unschöne, kalte Neobalken über dem Tisch angebracht. Zwei Gesichter näherten sich ihm. Sie wirkten entsetzt. Sahen hübsch aus. Waren schön. Freddy fühlte sich gut. Schmerzfrei und richtig gut. Langsam kam sein Oberkörper vom Tisch wieder hoch. Das Leben war slow und er war deutlich schneller. Schneller als der Schall, wenn es sein musste.

Der Blitz war ein Mündungsfeuer. So leicht war das nicht. Freddy hatte sich nach links weg gedreht und war aus der Hocke losgestartet. Sein Puls flog, Freddy flog, die Kugel flog. Sie flog gleich neben ihm durch das Fensterglas und zersplitterte es. Den Rest erledigte Freddy.

Zweiter Stock ist doch kein Problem. Im Training hatte Freddy ganz andere Höhen gemeistert. Gut, Fensterglas ist kein Sicherheitsglas. Und die Flüssigkeit die Freddy durch die vielen Schnitte verlor, würde sich sicherlich irgendwann negativ auf seinen Kreislauf auswirken. Aber das war jetzt nicht sein Thema. Auch die Splitter aus seinem Oberschenkelknochen hinderten ihn nicht daran, weiter Richtung Strasse zu laufen. Schließlich konnte er nicht wissen, dass gleich unter dem Fenster im zweiten Stock ein Fahrradständer war.

Nichts konnte ihn aufhalten. Nicht mit bestimmt zehn Gramm Koks im Gesicht. Er humpelte auf die Hauptstrasse zu. Noch ein paar Meter bis zur Fahrbahn. In diesem Moment hörte er einen Knall. Aber es war kein Schuss. Dafür war es viel zu laut. Er spürte auch keinen Einschlag. Der Knall schien mitten in seinem Gehirn zu sein. Dann fiel er hin. Sein Puls war nicht mehr fühlbar. Er war zwar da, aber einfach viel zu schnell.

Es waren nicht die Verletzungen an denen er sterben würde, das wusste Freddy in dem Moment, als er auf die zweispurige Fahrbahn sackte. Es waren auch nicht die Dealer, die ihn umbrachten. Die waren längst dabei ihre Sachen zu packten. Nein. Es war das Koks. Es war pur, es war Adrenalin, es hätte ihn wütend gemacht, wenn er sich nur hätte konzentrieren können. Aber das einzige an was er mit der Wange auf diesem herrlich glatten Asphalt noch denken konnte: Hoffentlich konnten die Ex-Kollegen die Klaue von diesem Scheiß-Inder genauso schlecht entziffern, wie er selbst.
Das Licht seiner Augen erlosch blau flackernd im Angesicht der nahenden Hilfe und Freddy hielt den Lieferschein für die Pizza ganz fest in der Hand.

Der Pizzabote (125) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2014. Alle Rechte vorbehalten.