Der König hielt sich, mehr als viele andere, Künstler an seinem Hof, die er ausgiebig förderte und die seinen Namen im ganzen Land zu preisen verstanden. Und auch mit dem Handwerk verhielt es sich nicht viel anders, es gedieh zu seltener Perfektion, da ein jeder Freude an den hübschen Dingen hatte und sich auch das eine oder andere Stück leisten konnte.
Wie in jedem Königreich gab es auch hier Arme und Bettler. Doch, weil alle reichlich hatten und niemand etwas neiden musste, gab man ihnen gerne, so dass auch sie noch weit besser lebten, als so mancher ihresgleichen in den Nachbarreichen. Das zog zwar viele Bettler an, doch die Kammern waren übervoll und so litt niemand wirklich Not.
König Wholtan war ein bescheidener, ruhiger Mann, dessen Gemahlin Saphira, wohl eine der schönsten Frauen des Landes und eine ehemalige Bauerntochter war, die bei der Geburt Jamirs starb.
Wholtan feiert keine ausschweifenden Feste, er wucherte nicht mit seinem Gold und war bekannt für seine gerechten Urteile, an den Gerichtstagen.
Als nun Wholtans Sohn das 16. Lebensjahr erreicht hatte, beschloss der König, dass sein Sohn nunmehr erwachsen sei und, dass dies mit einem großen Feste gefeiert werden sollte. Also wies er an, dass Gaukler, Geschichtenerzähler und alles fahrende Volk für eine Woche in seinem Reich einkehren sollten, um dem Volke und Hofe zur Unterhaltung zu dienen. Das Volk des ganzen Reiches sollte für drei Tage die Arbeit ruhen lassen und sofern dies möglich sei, sich in die Reichsstadt zu begeben, um dort mit ihm und seinem Sohne dieses Fest gemeinsam zu begehen.
Die Tafeln wurden reichlich gedeckt und das Volk strömte aus allen Teilen des Landes in die Reichsstadt, die bunt geschmückt war und deren Bewohner ihre Brüder und Schwestern aus den anderen Teilen des Landes herzlich empfingen. Die berühmtesten Fahrensleute aus der ganzen Welt waren angereist, um ihre Kunststücke vorzuführen, ihre Geschichten erzählen, ihre Lieder und Balladen vorzutragen. Es gab Tiere aus fernen Ländern zu bewundern und fremdartige Sitten und Gebräuche zu beobachten. Das Volk staunte über dieses und jenes und die Höhepunkte des Festes wurden bis über die Grenzen des Reiches hinaus weitererzählt.
Doch es war einer unter den Fahrensleuten, der die Sympathie des Prinzen besonders gewonnen hatte. Es war ein Gaukler. Er zeigte keinerlei Kunststückchen, saß die ganzen drei Tage vor seinem Zelt und wartete. Keinem Passanten erzählt er, worin seine Kunst bestand, noch zeigte er irgendwie den Willen, sie vorzuführen. Schnell verloren die Leute das Interesse an dem komischen Kauz vor seinem Zelt und wendeten sich lieber den anderen Attraktionen zu. So saß der Gaukler bald allein vor seinem Zelt, von allen unbeachtet. Von fast allen.
Nur der Prinz, der inzwischen jedes Zauberstückchen und jede Erzählung gehört und gesehen hatte, interessierte sich noch für den Gaukler. Als er an dem Zelt vorbei ging und den Fremden dort so allein sitzen sah, sprach er ihn an.
„Wo kommst du her, Gaukler?“
„Aus einem fernen Land. Es heißt Bolwahnien.“
„Und welcher Art ist deine Kunst?“ wollte der Prinz wissen.
„Meine Kunst ist die Illusion.“
„Die Illusion?“
„Das Reich der Vorstellung. Der Schein der trügt, oder auch nicht.“
„Bist du bereit mir deine Kunst zu zeigen?“
Der Gaukler sah den Prinzen eingehend an, dann stand er auf und schob die Zeltbahnen auseinander, so dass ein Eingang entstand.
„Wenn du bereit bist, dann tritt ein.“
Der Prinz trat vorsichtig in die Mitte des Zeltes und ein dämmriges Dunkel umfing ihn. Alles was es hier zu sehen gab, waren zwei große Sitzkissen mit einem kleinen Tischchen in Mitte.
„Setz dich dort hin!“ forderte ihn der Gaukler auf und zeigte auf eines der Sitzkissen.
Der Prinz tat wie ihm geheißen war und wartet gespannt, auf das, was nun wohl folgen würde. Doch zunächst einmal geschah rein gar nichts. Der Gaukler entledigte sich seines Mantels, den er sorgfältig zusammenfaltete und neben dem Eingang ablegte. Aus der Seitentasche seines Rockes zog er ein kleines Beutelchen hervor und ließ es auf den Tisch fallen. Dann setzte er sich dem Prinzen gegenüber und schaute ihm tief in die Augen.
Der Prinz rutschte unruhig auf seinem Kissen hin und her.
„Wo ist nun das Reich, von dem du gesprochen hast?“
„Hab Geduld!“ zischte der Gaukler und hob drohend einen Finger in die Luft. „Ich will erst einmal sehen ob du auch wirklich bereit dafür bist.“
„Aber ja doch“, rief der Prinz hitzig. „Sogar mein Vater hat gesagt, dass ich nunmehr erwachsen bin.“
„Pschsch.“ Der Gaukler legte einen Finger auf seinen Mund. „Erwachsen bist du erst, wenn du ein Geheimnis für dich behalten kannst. Das Wissen ist die Macht, die dich groß und stark machen wird. Wer aber das Wissen teilt, der verliert seine Macht, oder vielleicht sogar alles was er besitzt.“
„Aber ich kann ein Geheimnis bewahren“, wendete der Prinz sorgenvoll ein, weil er glaubt der Gaukler wolle ihm seine Welt der Illusionen nun doch nicht zeigen.
Doch der Gaukler lächelte nur und sagte: „Hab keine Angst. Wie du weißt habe ich keinen anderen außer dir in das Reich der Illusionen geführt und es wird auch keinen geben, dem ich es zeigen werde. Nur du sollst den Zutritt erlangen.“
Der Prinz war sichtlich geschmeichelt und beeilte sich dem Gaukler zu versichern: „Ich werde es niemandem erzählen, was du mir gleich zeigen wirst.“
Doch das war dem Gaukler nicht genug: „Umsonst ist der Tod“, antwortete er und fügte nach einer kleinen Pause nachdenklich hinzu: „Manchmal.“
„Was willst du haben, für dein Wissen?“ wollte der Prinz enttäuscht wissen. Denn es war nicht üblich, dass man den Gaukler für seine Kunst bezahlte. Erst wenn man zufrieden war entrichtet man seinen Obolus.
„Nichts, ... nichts will ich haben“, versicherte der Fremde schnell. „Aber es gehört zu meiner Kunst, dass du versprichst, alles, was du siehst, für dich zu behalten. Nichts, aber auch gar nichts an Wissen verlässt diesen Raum. Wenn du das versprichst, dann werde ich sie dir zeigen, die Wunder der Welt – der Welt der Illusionen.“
„Versprochen ist versprochen“, versicherte ihm der Prinz.
„Gut, nun denn“, erwiderte der Gaukler nach einem kurzen Zögern. „Siehst du diesen Beutel hier? Er enthält ein feines, weißes Pulver, es ist Schlüssel zum Reich der Illusionen.“ Eine Prise von dem weißen Pulver, das der Gaukler aus dem Beutel gestreut hatte, verteilte er auf der Glasplatte des Tisches. Den Rest schob er sorgfältig wieder in den Beutel.
„Woraus besteht dieses Pulver?“ verlangte der neugierige kleine Prinz zu wissen.
„Das ist Mondstaub. Den findet man nur an bestimmten Plätzen in Bolwahnien. – Aber gib nun acht!“
Der Gaukler breitet die Arme aus.
„Schließe deine Augen und wenn ich es dir sage, atme tief ein. Aber lasse die Augen geschlossen, bis ich dir sage, dass du sie wieder öffnen kannst. Hast du das verstanden?“
„Ja, ja, ich habe alles verstanden“, antwortete der Prinz mit bereits geschlossenen Augen. Er war ja so gespannt auf dies sagenhafte Reich der Sinne, das nur ihm allein bekannt werden sollte.
„Bist du bereit?“ fragte der Gaukler mit tiefsonorer Stimme, die von irgendwo aus dem Raum herzukommen schien.
„Bereit!“ rief der Prinz, erregt.
„Atme jetzt tief ein.“
Der Prinz tat, was ihm gesagt worden war und spürte, wie ein Luftzug ihm das Pulver in Nase und Mund blies. Das Pulver schmeckte nach Nichts, aber schon nach kurzer Zeit begannen seinen Lippen anzuschwellen – sein ganzes Gesicht schien anzuschwellen.
„Was ist das?“ fragte er verwirrt.
„Nichts. Hab keine Angst, es wird dir nichts geschehen, es dauert eine Weile.“ Der Gaukler schien genau zu wissen, was der Prinz empfand. „Alles an dir wird anschwellen, aber das geht schnell wieder vorüber ...“
Noch eher der Gaukler zu Ende gesprochen hatte, war das Anschwellen vorüber und der Prinz spürte, sein Gesicht nicht mehr. Er schien sein Gesicht einfach verloren zu haben. Mit der Hand wollte er fühlen ob es noch da war.
„... dann spürst du nichts mehr ... Nein fass es nicht an.“
Und der Prinz ließ die Hand wieder sinken. Ein warmes Gefühl erfasste seinen Körper, am liebsten hätte er sich hingelegt, um es einfach nur zu genießen.
„Was du nun spürst, dass ist dein Leben. Das Leben in deinem Körper. Es lässt sich nicht fassen, aber es ist immer da und du kannst es spüren so oft du willst.“ Die mächtige Stimme des Gauklers drang aus den Untiefen des kleinen Zeltes zu ihm hinüber. „Es ist das Gefühl der Wahrhaftigkeit, der Symbiose mit dem Raum um dich herum. All das gehört dir. Alles was du fühlst. Merk es dir gut, es ist noch vergänglicher, als das Leben selbst. Es ist immer auf der Flucht und du musst weit laufen, um es zu fangen, aber wenn du es hast, kannst du es nicht lange festhalten. Du wirst wieder und wieder laufen müssen, um es zu spüren. In Wirklichkeit aber rührt es sich nicht von Stelle. Denke dran, es ist immer da, wo du bist, es ist in dir. Wenn du ihm nachläufst begleitet es dich nur.“
Der Prinz fühlte diese unendliche Weite des Empfindens, seine Glieder bewegten sich langsam hin und her, und nach einiger Zeit schien es ihm, als wenn sich dies schöne Gefühl tatsächlich seiner Hand entziehen wollte. Er versuchte es zu halten, aber seine Hand griff ins Leere. Und das Gefühl entwich flüchtig wie ein Nebel in den Raum um ihn herum.
„Du kannst es nicht halten, lass es gehen. Öffne nun die Augen.“
Das Gefühl war noch nicht ganz abgeklungen und der Prinz musste sich zwingen die Augen wieder zu öffnen. Er hatte Angst, dass die kostbaren letzten Reste dann auch noch verschwinden würden.
„Öffne die Augen, es wird dich nie wieder verlassen“, ertönte die Stimme des Gauklers eindringlich.
Tatsächlich hatte der Gaukler Recht. Nachdem er die Augen wieder geöffnet hatte, schien sein Gesicht wieder da zu sein. Doch alles war anders als zuvor. Die Dämmrigkeit im Zelt schien ihm weicher zu sein als zuvor, er war entspannt, als wenn er die ganze Zeit über geschlafen hätte, er fühlte mehr Kraft denn je zuvor in sich. Er wusste er war nun erwachsen und fühlte, wie die Kraft mit jedem Herzschlag durch alle seine Glieder fuhr. Es wurde ihm mit einem Male klar, dass er erwählt war. Er war erwählt alles zum Guten zu wenden. Er konnte, wenn er wollte, Paläste bauen, die bis in den Himmel reichen würden, er konnte tun und lassen, was er wollte, denn er war erwählt. Er wollte etwas sagen. Aber er kam nur ein „Blllah“ aus seinem Mund, etwas hinderte ihn daran, das auszusprechen, was auf seiner Zunge lag.
„Sag jetzt nichts! Du hast versprochen zu schweigen. Vergiss das nicht.“
Der Gaukler schnürte das Säckchen mit dem kostbaren Mondstaub zu.
„Eins noch. Hör mir gut zu. Dieses Säckchen überlasse ich dir. Teile es dir gut ein, denn ich werde erst wieder über die Berge des Jochths kommen, wenn du deinen Vater zu Grabe trägst. Doch dann werde ich kommen und wir werden sehen, ob du bereit bist für den zweiten Weg.“
Er gab dem Prinzen das Säckchen, der es sorgfältig in seinem Mantel verbarg.
„Hast du alles genau verstanden?“ fragte ihn der Gaukler noch einmal, als er ihn zum Ausgang des Zeltes brachte.
Der Prinz nickte und trat blinzelnd hinaus ins grelle Tageslicht.
„Wir sehen uns wieder und vergiss dein Versprechen nicht!“ rief ihm der Gaukler nach und verschwand in seinem Zelt.
Der Prinz trat zu seinen wartenden Begleitern und sie setzten ihren Gang über den Marktplatz fort.
Es brauchte einige Zeit, bis der Prinz sich wieder an das grelle Licht des Tages gewöhnt hatte. Doch dann sah er die Dinge, wie sie wirklich waren. Warum waren ihm früher nicht die Tänzerinnen aufgefallen und wie sie sich bewegen. Begierig folgten seine Augen den rhythmisch, lockenden Bewegungen der jungen Mädchen. Das Gefühl, das er eben noch verloren glaubte kroch wieder an ihm hoch und erfasste ihn langsam, von Hüften aufwärts bis zum Gesicht. Sein Verlangen sich dem tanzenden Volk anzuschließen wurde jede Minute größer. Es schien, als hätten die Mädchen nur auf ihn gewartet und zögernd trat er vor in die Gasse, die sie nur für ihn gebildet hatten. Die Kraft, die ihm von dem geheimnisvollen Gaukler gegeben worden war, sollte nicht ungenutzt bleiben. Der Rhythmus der Tamburine und Zimbeln begann Besitz von seinen Gliedern zu ergreifen. Und schon bald bewegte er sich ausgelassen in der Mitte der Tänzerinnen.
Das Volk, das sich versammelt hatte lachte über die ungelenken und ungeübten Bewegungen, die der Prinz vollführte. Doch der sah nur die Mädchen und die Macht, die er über sie hatte. Sie reagierten auf seine Bewegungen, wie auf die Schläge des Tamburinspielers. Und auch das Volk um ihn herum, schien erst durch ihn und seine Begabung für Tanz und Musik zu echter Freude zu finden, denn sie lachten und lachten sich die Seele aus dem Leib.
Unter den Zuschauern war auch eine junge Prinzessin, mit dem Namen Thakeall, aus dem Nachbarland Amusien. Ihr Vater war bekannt dafür keine Gelegenheit zum Feiern auszulassen und von seinen Festen sprach man über die Landesgrenzen hinweg. Als die Prinzessin nun den jungen Jamir tanzen sah, konnte sie nicht der Versuchung widerstehen. Sie warf den Mantel einem ihrer Diener in die Arme und näherte sich mit schlangenartigen Bewegungen dem Prinzen.
Der Prinz, als er sie sah, spürte sofort, dass auch sie die Kraft des Gauklers kennen musste, so anmutig bewegte sie ihren Körper, so eindringlich schwang sie ihre Hüften und den Bauch, in dessen Nabel ein Saphir das Licht in tausend Farben brach, dass er die anderen Tänzerinnen, um ihn herum keines Blickes mehr würdigte. Immer wilder schlug das Tamburin den Takt, immer wüster wurden seine Bewegungen und immer lockender zog ihn die Prinzessin in ihren Bann. Sie vergaßen fast alles um sich herum und bemerkten auch nicht, dass die anderen Mädchen längst das Tanzen eingestellt hatten, und die Welt nun ganz allein ihnen gehörte.
Erst als die Prinzessin mitten in der Bewegung abbrach und erschöpft nach Halt an Jamirs Arm suchte, merkte er, dass es Zeit wurde aufzuhören. Er hätte noch stundenlang weiter tanzen können. Er besaß ja auch die Kraft. Die Prinzessin aber musste ausruhen, das sah er ein. Also geleitete er sie, nachdem er einige Silberlinge in die Gruppe der Musiker und Tänzerinnen geworfen hatte, zu einem Stand, an dem Erfrischungen angeboten wurden.
Nachdem die Prinzessin wieder zu Atem gekommen war und sich erfrischt hatte, lächelte sie ihn an und fragte: „Tanzt Ihr immer so wild?“
„Aber ja“, log der Prinz. „Tanzen ist wunderbar, man spürt die Kraft, die in einem steckt.“
„Bis einen die Kraft verlässt“, erwiderte die Prinzessin. Sie sah ihm ins Gesicht und er spürte wieder dieses Gefühl, das sich nicht beschreiben ließ, aber das die Kraft des Lebens in sich trug.
„Diese Kraft kann mich nicht verlassen, ich trage sie ja in mir.“
„Auch Ihr werdet eines Tages müde, oder glaubt ihr nicht.“
„Niemals, ich kenne das Geheimnis der Kraft!“ Und der Prinz wusste, er könnte es ihr nicht sagen, wenn Sie ihn jetzt danach fragte, denn er hatte es ja versprochen.
„Das Geheimnis der Kraft? – Aber das wollt Ihr mir sicher nicht verraten oder?“ stichelte die Prinzessin.
„Nein, das kann ich nicht“, murmelte der Prinz und spürte in allen Gliedern, wie die Kraft ihn verließ. „Aber vielleicht werden wir sie bei anderer Gelegenheit teilen können“, fügte dann hinzu und ein Hoffnungsschimmer keimte in ihm auf. Schließlich war sie auch ein Königskind, da war es doch möglich, dass der Gaukler auch ihr das Geheimnis verraten würde.
„Ich muss jetzt gehen“, rief er und stürmte davon zum Zelt des Gauklers.
Doch das Zelt des Gauklers war nicht mehr da. Der Gaukler hatte längst alle seine Habe gepackt und war von dannen gezogen.
Als der Prinz vor dem leeren Zeltplatz stand und nachdachte, trat plötzlich sein Vater neben ihn.
„Nun, mein Sohn, ich hörte du warst im Zelt dieses Gauklers und er hat dir seine Kunst gezeigt?“
„Ja“, antwortete der Prinz. „Und nun ist er fortgezogen.“
„Das war ein komischer Geselle, niemandem außer dir wollte er seine Kunst zeigen. Nicht einmal mir hat er verraten, was es damit auf sich hatte“, sinnierte der König. „Du hast Glück, dass er dich auserwählt hat. Willst du mir nicht sagen, um was für eine Art von Kunststück es sich handelte?“
Das wollte der Prinz auf keinen Fall und er zögerte mit der Antwort.
„Du hast doch wohl vor deinem Vater keine Geheimnisse, oder?“
„Aber nein“, antwortete der Prinz schweren Herzens. „Er hat mir die Zukunft geweissagt.“
„So, die Zukunft! Ja, diese Wahrsager sind schon ein seltsames Völkchen. Was hat er dir denn geweissagt?“
„Er sagte, ich würde eines Tages König werden“, erklärte der Prinz dem Vater und wartet, darauf, dass dieser ihn zurechtweisen würde.
„Ha, ha, ha“, lachte der Vater. „Das soll mir ein rechter Wahrsager gewesen sein. Ich hoffe, du hast ihn für diese Weisheit ordentlich belohnt“, rief der König belustigt. „Jetzt weiß ich auch warum er gerade dich ausgewählt hat! Nun, das wird dir eine Lehre sein.“
Auch die Begleiter des Königs schüttelten sich vor Lachen.
Der Prinz ärgerte sich über die Dummheit des Vaters, der nicht bemerkte, dass er ihn belog. Ihm würde so etwas nicht passieren. Er würde sich einen solchen Bären nicht aufbinden lassen. Sie alle würden schon sehen, was er Zuwege brächte, wenn er erst König wäre.
In den nächsten 3 Monaten vertiefte sich die Beziehung des Prinzen Jamir zu Prinzessin Thakeall immer mehr. Es verging kein Tag mehr, an dem nicht ein irgendein Bote mit einer Nachricht von Jamir bei ihr eintraf oder umgekehrt. Die beiden Könige, die dies mit Wohlwollen beobachteten, beschlossen eines Tages, dass es wohl das Beste für beide Reiche sei, wenn die beiden heiraten würden. Auch Jamir und Thakeall waren von dieser Idee begeistert und so wurde Thakeall die Gemahlin des Jamirs und Prinzessin des Reiches von Wholtan und wohnte fortan in seinem Palast mit Jamir zusammen.
Es dauerte nicht lange und die Prinzessin stellte fest, dass die Kraft, die sie am Tage ihrer ersten Begegnung verspürt hatte, wohl doch nicht so lange gehalten hatte. Bei näherer Betrachtung war der Prinz eher schüchtern und zurückhaltend. Auch das Leben am Hofe Wholtans war im Vergleich zum Hofe ihres Vaters ziemlich eintönig und langweilig. Es gab keine Festlichkeiten, außer zum Erntedank und sie lebten sehr ruhig und zurückgezogen. Sie vermisste es, mit dem Prinzen so ausgelassen zu tanzen und von ihm zu hören, wie er die Welt auf den Kopf stellen würde. Von Tag zu Tag wurde sie deprimierter und deprimierter, bis sie ihre Tage meistens allein in ihrem Gemach verbrachte.
Da merkte auch der Prinz, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung sei und suchte sie in ihren Gemächern auf.
„Sag mir, Thakeall, was dich bedrückt, dass du hier allein in deinen Gemächern sitzt. Du wirst mir doch nicht krank sein?“
„Ach, Jamir“, seufzte die Prinzessin. „Da hätte ich dich eigentlich schon lange fragen sollen.“
„Mich? Aber wieso?“ fragte der Prinz erstaunt.
„Weil du es verloren hast, das Ungezügelte, Wilde, Leidenschaftliche, die Kraft eben, die dir innewohnte an dem Tag unseres Kennenlernens.“
„Die Kraft?“ Und der Prinz begann sich daran zu erinnern wie es war, an diesem Tag.
„Ja, weißt du nicht mehr? Damals sagtest du mir, du würdest das Geheimnis der Kraft kennen, und sie würde dich niemals verlassen.“
Der Prinz erinnerte sich an die Kraft und versuchte sie in sich wieder zu finden.
„Ich dachte unser Leben hier im Palast würde ein einziges rauschendes Fest sein, mit dir und mit der Kraft. Ich dachte wirklich du hättest sie.“
So sehr sich der Prinz auch mühte, er konnte die Kraft nicht in sich finden.
„Und nun sitzt du da und regierst ganz so wie dein Vater, mit dieser ganz besonderen Vernunft und Besonnenheit, die dann doch zu nichts führt.“
Sie war nicht in ihm die Kraft. Er hatte sie verloren. Thakeall hat Recht, es war nichts mehr in ihm. Er war ein leeres Gefäß, das gefüllt werden wollte.
„Jamir! Es gibt wichtigeres als die Staatsgeschäfte. Das Leben ist mehr als seine bloße Organisation. Lass uns ein Fest feiern. Eines, so wie damals, dass wir uns erinnern können wie es war.“
„Ein Fest? Aber doch nicht einfach so. Ganz ohne Grund.“
„Ohne Grund? Die Kraft ist Grund genug? Wir brauchen diese Kraft. Wir brauchen das Vergnügen. Das Vergnügen sie spüren, uns zu spüren. Das ist allemal Grund genug. Findest du nicht?“
„Ich werde darüber nachdenken.“
„Darüber nachdenken ist Nichts. Tu es.“
Der Prinz war unsicher geworden. Er fühlte diese Leere und er war sich nicht bewusst, wie man sie wohl füllen sollte.
Also ging er in seine Gemächer, um darüber nachzudenken. Er suchte das Pulver des Gauklers. Die Kraft kam von diesem Pulver, soviel war sicher. Ein wenig davon verteilte er auf dem Tisch und betrachtete es eine Zeitlang. Dann beugte er sein Gesicht tief über den Tisch und atmete heftig ein. Kaum das der feine weiße Mondstaub in seine Nase und Mund eingedrungen war, spürte er sie wieder, die Kraft.
Daraufhin stürzte er in das Gemach der Prinzessin. Nun war er sich sicher, ein Fest würde alles wieder ins Reine bringen. Sie sah seine Verwandlung und lächelte ihn mit einem Male wieder an. Ganz so, wie sie es früher getan hatte. Er ließ Tänzerinnen und Musiker kommen, lud alle seine Freunde ein und sie feierten und tanzten und liebten sich dann die ganze Nacht hindurch.
Als sie am nächsten Morgen erwachten, lag sie noch lange in seinen Armen, bis sie plötzlich sagte: „Siehst du, gestern warst du so früher. Dir fehlt das Vergnügen doch mehr als du denkst.“
„Es sind nicht die Feste selbst, es ist das Geheimnis der Kraft, dass mich so verändert.“
„Das Geheimnis? Willst du es mir nicht verraten dein Geheimnis?“
Jamir dachte darüber nach und schwieg. Er hatte versprochen es niemandem zu verraten, aber Thakeall war schließlich seine Frau und ein Geheimnis, das man mit niemandem teilen konnte war anstrengender, als er zunächst geglaubt hatte. Wie viel mehr Spaß konnten sie haben, wenn sie beide die Kraft hatten. Sicher wäre das wunderschön und schließlich hätte der Gaukler sicher nichts dagegen, denn auch Thakeall war ja eine Prinzessin. Wäre doch der Gaukler damals nicht so schnell verschwunden! Alles wäre viel einfacher. Noch hatte ihn die Kraft nicht wieder verlassen und er wusste auf einmal, dass man diese Kraft teilen musste, damit sie wuchs. Damit war es nicht wie mit den meisten Dingen, die wenn man sie teilte weniger wurden. Ein unbändiges Verlangen überkam ihn, mit ihr gemeinsam die Kraft zu versuchen.
„Gut, ich will dir das Geheimnis der Kraft verraten. Warte einen Moment.“ Er lief hinüber in sein Gemach und holte den Beutel mit dem Mondstaub.
„Hier dieses Pulver, das setzt die Kraft frei, die in dir ist.“
Thakeall sah auf den Beutel. „Was ist das?“
„Mondstaub. Ich habe ihn von einem Gaukler aus Bolwahnien. Willst du es probieren?“
„Aber ja!“ rief sie erfreut.
Jamir blies ihr ein wenig von dem Pulver ins Gesicht und sah wie sich ihre Gesichtszüge verkrampften.
„Du musst keine Angst haben! Nur am Anfang fühlt es sich etwas merkwürdig an.“
Als sie sich dann zu entspannen schien, nahm auch er noch eine kleine Prise von dem Pulver. Und Jamir hatte Recht gehabt. Zusammen hatten sie so viel mehr Kraft als er allein, dass sie volle drei Tage und Nächte durchfeierten, bevor sie erschöpft zur Ruhe kamen.
König Wholtan hatte das rauschende Fest mit Missfallen beobachtet, doch er sagte nichts, denn Jamir und Thakeall waren jung und verliebt. Und so war es verständlich, dass sie sich ein wenig ausleben wollten. Es würde noch eine ganze Zeitlang dauern bis Jamir die nötige Ruhe erreicht hatte, um die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Doch soweit sollte es wohl noch lange nicht sein, denn von dem Tage an, als Jamir Thakeall in das Geheimnis der Kraft eingeweiht hatte, feierten sie immer öfter und ausschweifendere Feste. Es hatte nicht den Anschein, dass Jamir sich dem Willen des Vaters gemäß entwickeln würde. Die Pausen, die Jamir und Thakeall zwischen zwei Festen einlegten wurden immer kürzer und die Vorhaltungen Wholtans seinem Sohn gegenüber immer länger. Bald wurde fast jeden Tag gefeiert und getanzt, und König Wholtan wandte sich verbittert von Jamir ab.
Aber auch der Vorrat von dem Mondstaub wurde immer kleiner und es war abzusehen, dass er bald gänzlich erschöpft sein würde. Da fragte Thakeall eines Tages Jamir, was geschehen würde, wenn der Mondstaub aufgebraucht sei. Jamir erzählte ihr, dass der komische Gaukler erst wieder an den Hof käme, wenn er den Vater zu Grabe trüge und der Mondstaub auf andere Art nicht zu bekommen sei.
Diese Sache ließ Prinzessin Thakeall keine Ruhe mehr. Und als der letzte Rest Mondstaub verbraucht, der König sich aber bester Gesundheit erfreute und es keineswegs so aussah, als wenn er in nächster Zeit zu sterben gedachte, schlug sie Jamir vor, doch dem Vater beim Sterben ein wenig behilflich zu sein.
Jamir war entsetzt und wollte von solchen Gedanken nichts wissen, obwohl er sich mit seinem Vater schon seit langem nicht mehr verstand und er die ewigen Vorwürfe, die Wholtan ihm machte leid war. Prinzessin Thakeall aber konnte oder wollte ohne Mondstaub nicht weiterleben und verschloss sich in ihren Gemächern, bis auch Jamir von dem Leben ohne Mondstaub so enttäuscht war, dass er sich ihren Ideen zuwandte. Thakeall versprach ihm, dass, nachdem er sich mit ihrem Plan einverstanden erklärt hatte, er selbst nicht Hand an seinen Vater anlegen musste.
Die Tage vergingen und Jamir quälte die Frage, wann Thakeall es wohl wagen würde, König Wholtan das Leben zu nehmen. Zehn Tage traute er sich nicht mehr aus seinen Gemächern, dann überbrachte ein Bote, die Nachricht, das Wholtan ihn, seinen Sohn sehen wolle. Er selbst lag im fiebrig im Bett, und keiner der Ärzte konnte ihm helfen. Sie erwarteten stündlich seinen Tod.
König Wholtan sprach dem Sohn mit brüchiger Stimme noch ein letztes Mal ins Gewissen, sich den Regierungsgeschäften nunmehr mit Verstand und Vernunft zu widmen, dann verschied er mit verzerrten Gesichtszügen.
Überall ins Land und auch über die Grenzen nach Bolwahnien hinweg, ließ Jamir, durch Boten den Tod des Königs Wholtan verkünden und setzte den Termin zur Beisetzung fest. Nun mussten sie nur noch warten, dass der Gaukler sein Versprechen hielt und sich am Hofe Jamirs einfand. Dann wollten sie ihm schon einen ordentlichen Vorrat an Mondstaub abschwatzen.
Vier Tage nach der Beisetzung, ihre Hoffnung war schon fast erloschen und sie stritten schon seit einer Woche aufs heftigste, weil Thakeall der Meinung war, dass man mehr Boten hätte nach Bolwahnien schicken müssen, meldete ein Diener Jamir, dass ein fremder Fahrensmann aus Bolwahnien ihn zu sprechen wünsche. Sofort waren sich König und Königin wieder eins und ließen den Fremden unverzüglich vor den Thron führen. Jetzt endlich sollten sie den lang ersehnten Mondstaub endlich bekommen.
Der Fremde, war tatsächlich der Gaukler, den Jamir an seinem 16. Geburtstag vor dem Zelt getroffen hatte und er war gekommen, um sein Versprechen einzulösen und Jamir den zweiten Weg der Kraft zu zeigen. Vor dem Thron zog er einen großen Beutel, mit Mondstaub aus dem Umhang und legte ihn Jamir zu Füßen.
„Mein König“, begann er nach einer tiefen Verbeugung, „dieses kleines Mitbringsel mag euch über den Tod eures seligen Vaters hinweghelfen. Auf daß ihr die Kraft habt, sein Erbe anzutreten.
Thakeall griff nach dem Beutel und wog ihn in der Hand. Jamir wollte etwas sagen, weil er fürchtete, dass der Gaukler böse würde, dass er sein Geheimnis weitergegeben hatte. Doch der lächelte nur, nickte Thakeall freundlich und aufmunternd zu und fuhr fort.
„Ich hoffe es wird auch genügen, um Eurer Frau über den schmerzlichen Verlust zu trösten.“
„Nun“, sagte Thakeall und wog immer noch den Beutel in der Hand ab. „Das ist großes und edles Geschenk, das du uns da bereitest.“
„Aber?“ fügte der Gaukler hinzu, der fragenden Tonfall in Thakealls Rede wohl vernommen hatte.
„Ich meine nur, auch dieser Beutel ist nicht von unendlicher Dauer. Wenn er nur leer ist, was dann? – Wäre es nicht möglich, dass ihr uns mitteilt, wie wir euch finden können, wenn dies geschehen sollte und es nötig wird noch ein wenig mehr von der Kraft zu erhalten, um uns bei unseren schwierigen Regierungsgeschäften behilflich zu sein?“
Der Gaukler lachte und sagte: „Nun, wir haben jede Menge von diesem Pulver, ihr könnt ganz beruhigt sein. Aber selbst wenn Ihr mich erreichen solltet, so könntet ihr von diesem Pulver doch nichts bekommen. Der ewige Weg der Kraft ist denen vorbehalten, die den Kontrakt unterschrieben haben.“
„Es ist also möglich eventuell noch mehr Mondstaub zu bekommen?“
„Wenn Ihr Euch entschließt den Kontrakt zu unterzeichnen, wird ein Bote euch jederzeit mit der gewünschten Menge versorgen. So oft Ihr wollt“, wandte sich der Gaukler an Jamir.
„Was ist das für ein Kontrakt?“ wollte Jamir wissen.
„Das ist doch egal, was das für ein Kontrakt ist, geb er ihn her, ich werde ihn unterzeichnen“, fuhr Thakeall dazwischen.
„Nur König Jamir kann diesen Kontrakt unterzeichnen. Und nur er kann den Mondstaub erhalten!“ warf der Gaukler ein.
„Also, was ist das für ein Kontrakt?“ fragte Jamir noch einmal.
„Der Kontrakt beinhaltet zwei Vereinbarungen. Die eine legt den Preis für die Unze fest und die andere verlangt von Euch, dass Ihr euch verpflichtet aus eurem Königreich alle Spiegel zu verbannen, solange der Kontrakt seine Gültigkeit hat.“
„Weiter nichts?“ wollte der König Jamir unsicher wissen.
„Weiter nichts!“
„Wie hoch ist der Preis für die Unze?“
„100 Silbertaler pro Unze, das ist der Preis.“
„Das ist viel Geld“, stellte der Prinz fest.
„Unsinn!“ rief Thakeall dazwischen. „Der Preis ist angemessen. Fang jetzt ja nicht an zu feilschen!“
Der König war sich noch immer nicht sicher, dass der Vertrag nicht doch noch einen Haken hatte. „Und nur auf die Spiegel müssen wir verzichten?“
„So sieht es der Kontrakt vor“, erklärte der Gaukler noch einmal.
„Ich weiß nicht ...“
„Was heißt, du weißt nicht? Was brauchen wir Spiegel? Sollen sie doch mit den Spiegeln glücklich werden, wenn sie wollen“, schimpfte Thakeall wieder.
„Gebt mir noch ein wenig Bedenkzeit“, bat Jamir den Gaukler.
„Ich bin gekommen, um euch den zweiten Weg der Kraft zu zeigen, wenn ich wieder gehe, ist dieser Weg für immer versperrt. Überlegt es euch gut und überlegt es euch jetzt“ erwiderte der Gaukler erbarmungslos.
„Unterschreib endlich den Kontrakt“, drängte ihn Thakeall.
„Wenn du meinst!?“ seufzte Jamir nach einer kurzen Pause. „Dann gebt mir den Kontrakt, ich werde ihn unterschreiben.“
Nachdem Jamir den Kontrakt unterschrieben hatte, befahl er überall im Reich die Spiegel zu sammeln und an den Hof zu bringen. Auch im Palast wurden sämtliche Wände von den Schmuckspiegeln befreit. Alle Spiegel wurden verladen und nach Bolwahnien verschickt bis kein Spiegel im ganzen Reich mehr zu finden war und der Prinz seinen Teil des Kontraktes erfüllt hatte.
Die Bauern im Lande Jamirs wunderten sich zwar über die Dinge, die bei Hofe geschahen, aber sie taten was ihnen geheißen wurde.
Die Jahre gingen ins Land und am Hofe Jamir wurde immer ausschweifender gefeiert. Es hatte sich bald herausgestellt, dass die Freunde Jamirs und Thakealls ohne dass auch sie von dem Mondstaub beflügelt wurden, das andauernde Feiern nicht durchhielten. Deshalb weihte Jamir nach und nach alle seine Bekannten und Freunde in das Geheimnis der Kraft ein. So dass bald der ganze Hofstaat sich fast täglich an den Kräften des Mondstaubes erfreute. Das sprach sich nicht nur im eigenen Lande herum und von überall her kamen Prinzen und andere edle Herren, um sich am Hofe Jamirs zu erfreuen. Viele von Ihnen hatten Hof und Reich zurückgelassen und verweilten Jahre am Hofe Jamirs einzig, um den begehrten Staub zu erlangen.
Die meisten waren nicht besser gekleidet, als die Bettler in den Straßen und wenn man nicht an ihrer Geburtsurkunde ihre königliche Herkunft hätte ablesen können, man hätte sie auch für Betrüger und Almosenempfänger gehalten.
Weil aber der Hofstaat immer größer geworden war, war auch der Verbrauch an Mondstaub stetig gestiegen und der König begann, die Vorratskammern zu plündern, um den vielen Mondstaub bezahlen zu können. Er musste mehr Steuern erheben als früher, so dass die Bauern langsam aber sicher verarmten. Doch mit der Verarmung der Bauern, setzte auch die Verarmung der Handwerker und Händler ein. Alles Geld floss aus Jamirs Land direkt in die Schatzkammern Bolwahniens und die Untertanen in Jamirs Land konnten sich nicht einmal mehr das Notwendigste zum Leben leisten. Die Schar der Armen und der Bettler wurde immer größer, doch sie bekamen immer weniger, denn niemand konnte es sich leisten auch nur einen einzigen Silberling abzugeben, ohne in die Gefahr zu kommen, am nächsten Tag selbst auf der Straße zu landen.
Also geschah es, dass zunächst die Künstler, für die es hier kein Geld mehr gab, das Land verließen und nach und nach auch die besten Handwerker, Händler und Bauern, das Land verließen, da sie in Jamirs Reich nicht mehr die Früchte ihrer Arbeit genießen konnten. Wer nicht ging, sondern blieb, der klagte den ganzen Tag fürchterlich über die Steuern und Abgaben, so dass er kaum noch zur Arbeit kam. Die Menschen arbeiteten lustlos, wie unter der Peitsche, doch die sollte erst noch kommen.
Jamir nahm die Veränderungen überhaupt nicht wahr. Seine rauschenden Feste übertünchten alle Signale, die ihn hätten warnen müssen. Doch eines Tages stand eine Abordnung der Untertanen vor dem Thron und bat um Gehör. Jamir ließ sie vortreten und sie trugen ihm ihr Leid vor und baten um Senkung der Steuern und Abgaben, dass sie wenigstens von ihrer Arbeit Lohn leben konnten. Etwas in Jamir regte sich, er ärgerte sich darüber, dass der Pöbel es wagte sein herrliches Fest zu stören, versprach Ihnen aber, dass er sich die Not vor Ort ansehen werde.
Tags darauf ritt er mit dem halben Hofstaat aus. Sie tobten mit ihren Rössern über die Felder und Dörfer des Landes und Jamir musste mit Entsetzen feststellen, wie unglaublich das Volk sein Erbe behandelt hatte. Viele Dörfer waren halb verfallen, die Menschen waren verkommen und arbeiteten nicht, sondern saßen auf der Straße herum und ließen es sich wohl gehen. Die Felder waren nicht bestellt worden, der Boden vertrocknet, defekte Bewässerungsanlagen wurden nicht repariert, die Mühlen hatten nichts zu mahlen, einige der Mühlsteine hatten sich festgefressen, weil sie so lange gestanden hatten. Das Land war in einem desolaten Zustand und Jamir beschimpfte die Bauern und Handwerker: „Könnt ihr Nichtsnutze den gar nichts allein. Wenn man euch mal fünf Minuten den Rücken kehrt, lasst ihr gleich alles verrotten. Aber nicht in meinem Reich. Das soll nun alles anders werden. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass alles wieder in seinen alten Zustand gebracht wird.“
Die Bauern die das hörten, dachten, dass nun tatsächlich alles wieder in Ordnung käme, aber da hatten sie sich gewaltig geirrt. Denn als der Prinz wieder im Schloss war, ließ er die Verwalter rufen und teilte ihnen mit, dass nunmehr die Arbeit der Bauern besser beaufsichtigt werden sollen, und ein jeder zu einem bestimmten Tagewerk verpflichtet werden solle. Die Abgaben und Steuer aber noch einmal erhöht würden, um die besser Beaufsichtigung zu finanzieren. Als die Bauern das hörten, wurden sie böse und widersetzten sich den Verwaltern, so dass ihr Tagewerk noch schlechter voran ging als zuvor. Einige der Bauern weigerten sich sogar die fälligen Abgaben zu entrichten und wollten ihr Land verlassen.
Es dauerte nicht lange, bis der König davon hörte und er beschloss eine Armee aufzustellen und das Gesindel zur Arbeit zu zwingen und am Fortziehen zu hindern. Er befahl jeden zu peitschen, der sich widersetzte und jeden zu töten, der sich wiederholt staatsfeindlich verhielt. Jetzt, wo das Volk die Knute der Tyrannei erste richtig zu spüren bekam, wurde der Zorn der Menschen so groß, dass eine Revolte unmittelbar bevorstand.
Von all dem wollte Jamir jedoch nichts wissen. Er feierte weiter und weiter und die Ströme von Mondstaub versiegten nicht, solange er zahlen konnte, also mussten die Bauern arbeiten, ob sie wollten oder nicht. Er war jung und stark, denn er spürte die Kraft. Sollten sie doch rebellieren, der Pöbel konnte ihm nichts anhaben, mit der Kraft, die seinem Hof innewohnte würde er jeden Aufstand niederschlagen.
Wie, um die Bauern noch zu provozieren, hob er die Steuern erneut an, dass sie ein absolut unerträgliches Maß erreicht hatten. Daraufhin versammelten sich viele Bauern, um einen Aufstand zu planen.
Doch es war einer unter den Bauern, der sich dafür aussprach, den König nicht zu verurteilen, weil er nicht mehr Herr in seinem eigenen Reiche sei, sondern die Schuld für ihre Misere in Bolwahnien liege. Ein anderer berichtet, dass er so etwas in jungen Jahren schon einmal erlebt habe. Auch damals habe es einen Aufstand gegeben, doch nachdem der König absetzt und fortgejagt worden war, habe ein Stadthalter aus Bolwahnien die Regierungsgeschäfte übernommen. Es hat sich zwar einiges danach geändert, aber bis heute lebe man dort in Unfreiheit. Und er selbst wollte keinesfalls unter der Knute eines Bolwahnischen Stadthalters leben. Dann schon lieber wegziehen, als jetzt sein Leben zu riskieren, ohne Aussicht irgendetwas Vernünftiges erreichen zu können.
Dass die Hauptschuld in Bolwahnien lag, akzeptierten bald alle Bauern. Nur, wie man das Problem nun angehen sollte, darüber herrschte Uneinigkeit, bis einer der Anwesenden von einem weisen Mann erzählte, der in den Gebirgen des Jochths wohnte und den man zuerst um Rat fragen sollte.
So kam es, dass an Jamirs Hof eines Tages ein alter Mann aus den Gebirgen Jochths darum bat vorgelassen zu werden und den König zu sprechen.
„Mein Name ist Verithates, ich komme aus dem Gebirge Jochths und ich habe ein Geschenk für dich“, stellte sich der Alte vor.
„Hab vielen Dank dafür, alter Mann“, erwiderte der König höflich. „Das ist ein weiter Weg und es wird wohl ein wertvolles Geschenk sein, das du mir da bringst, wenn du diese Mühe auf dich nimmst.“
„Du wirst in deinem Reich nicht Vergleichbares finden. Aber ich bitte dich es erst kurz vor Sonnenuntergang zu öffnen, damit es seinen vollen Zauber zu entfalten vermag.“
„Ein Zauber?“ fragte der Jamir neugierig.
„Ja, du wirst schon sehen. Doch nun muss ich gehen, mein Weg ist noch weit.“
„Warte noch, ich will dich für deine Mühe entlohnen. Siehst du dieses weiße Pulver hier? Es wird dir Kraft geben, für deinen langen Heimweg. Nimm. Nimm reichlich davon.“
„Ich will dich nicht beleidigen, aber erlaube, dass ich dein Geschenk ablehne, denn die Kraft des Mondstaubes ist nicht von Dauer und er bringt dich deinem Ziel nicht näher. Es ist nur etwas für Menschen, die Zeit für Umwege haben. Ich aber habe diese Zeit nicht“, entschuldigte sich der Alte demütig.
Der König stutzte, sagte aber: „Dann gehe hin in Frieden.“
Jamir dachte noch lange über den alten Mann nach, als dieser fort war. Er kannte das Geheimnis des Mondstaubes, aber er glaubte nicht an seine Kraft. Wahrscheinlich verfügte der Alte über viel mächtigere Kräfte, als die des Mondstaubes und hatte Jamir eine davon gebracht. Das Geschenk. Jamir konnte nicht warten, bis die Sonne unterging. Hastig öffnete er das Geschenk. Es war das Bild eines hässlichen, schlaffen, alten, bösen Mannes, der grimmig dreinschaute. Das zerfurchte Gesicht starrte Jamir an. Jamir wusste nicht, wer das sein sollte. Der Fremde war so hässlich. Dass so etwas überhaupt auf Gottes Erde leben durfte, konnte er kaum glauben.
Jamir suchte nach dem Zauber des Bildes und stellte fest, das sich das Gesicht bewegen konnte. Es streckte sogar die Zunge raus, wenn er es tat. Das Gesicht tat praktisch alles, was er tat, nur viel viel hässlicher. Dann wurde es Jamir plötzlich klar. Das, was der Alte ihm geschenkt hatte, war gar kein Bild. Es war ein Spiegel und es war sein Gesicht, das er dort sah. Diese hässliche alte Fratze, war die seine.
Einen Moment lang wollte er nach den Wachen rufen und sie dem alten Mann hinterher jagen, dass sie ihn fassten und in den Kerker warfen, wo er verrotten sollte. Doch dann sah er wieder sein Gesicht im Spiegel, hielt inne und schwieg. Eine ganze Zeit betrachtete er sich und überlegte, dann ließ er den Spiegel in seinem Umhang verschwinden. Niemand durfte wissen, dass er einen Spiegel besaß, denn sonst würde der Strom des Mondstaubes auf immer versiegen.
Dieses Geheimnis behielt er für sich. Tagelang betrachtete er sich im Spiegel, mied seine eigenen Feste und niemand schien ihn zu vermissen. Sein Interesse am Mondstaub ließ nach und eine Frage beschäftigte ihn die ganze Zeit über brennend. Warum hatte der Alte das getan?
Eines Tages befahl er ein Pferd zu satteln und ritt aus. Er machte sich auf den Weg in die Berge Jochths auf der Suche nach dem alten Mann. Er hatte einige Fragen an ihn.
Zehn Tage und zehn Nächte ritt er über die Ländereien und durch das Gebirge und während er ritt, fühlte er eine ganz andere Kraft in sich wachsen, als die, die er vom Mondstaub her kannte. Diese Kraft ließ nicht nach und wurde immer stärker und stärker je länger er ritt.
Endlich erreichte er die Hütte, vor der der Alte in der untergehenden Sonne saß und vor sich hindösend eine Pfeife rauchte. Der Alte sah ihn an, sagte aber nichts, sondern lud ihn nur ein, sich neben ihn zu setzen. So saßen sie da und beobachteten die untergehende Sonne. Anschließend übernachtete Jamir bei dem Alten, der schon ein Nachtlager für den König bereitet hatte.
Am nächsten Morgen wollte Jamir mit dem Alten sprechen, doch der sagte nur, er solle Holz suchen, damit sie essen könnten. So ging das eine Woche, der König wollte mit dem Alten sprechen, aber der lud ihm so viel Arbeit auf, dass es dazu einfach nicht kam. Der König übte sich in Geduld und sah hin und wieder in den Spiegel. Sein Gesicht wurde mit jedem Tag ein bisschen freundlicher und manchmal lächelte er sich sogar an.
Als der Alte das merkte, fand er es an der Zeit mit Jamir zu sprechen. Und Jamir sprach über den Mondstaub, über die Kraft, über sein Leben und über alles was ihm einfiel. Je länger er sprach, desto weniger Fragen blieben in ihm unbeantwortet, bis nur noch eine Frage übriggeblieben war. „Wie kann ich das Erbe meines Vaters retten?“
„Das Erbe deines Vaters ist ohne dich nichts wert“, antwortete der Alte. „Zuerst musst du dich einmal selbst retten. Dann kannst du auch alles andere retten.“
„Ich werde den Mondstaub in meinem Reiche verbieten und keinen Boten aus Bolwahnien mehr ins Land lassen.“
„Aber Bolwahnien ist doch nicht das Problem. Das Problem bist du. Deine Sucht nach Glück, Kraft und Leben. Schau in den Spiegel, beobachte dich selbst und du wirst den richtigen Weg schon finden. Vor allem aber lerne den Sinn von dem Unsinn zu unterscheiden.“
„Wie soll ich das tun?“ fragte Jamir hilflos. „Komm doch mit mir und hilf mir, als mein Berater.“
„Nein, mein Platz ist hier. Aber du kannst noch einige Zeit hier bleiben, bist du glaubst den Aufgaben gewachsen zu sein.“
So blieb der König bei dem Alten und half ihm bei den täglichen Arbeiten. Er kochte, lernte Dächer zu decken, zu zimmern, ein Feld zu bestellen, er beobachtete das Wachsen der Pflanzen und Tiere. Jamir mochte den Alten, denn er zwang ihn zu nichts, er bedanke sich für nichts, er nahm ihn so, wie er war und Jamir half dem Alten gern. Er wäre noch länger geblieben, aber er dachte an das Land, die Bauern, die Handwerker und Händler, die er in den Ruin getrieben und nun mit ihren Problemen allein gelassen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er die Verantwortung für sie, für sein eigenes Leben und fühlte sich auch bereit diese Last auf sich zu nehmen. Als er also nach sechs Monaten im Spiegel sein Gesicht im Spiegel betrachtete, sah er einen ernsten, aber freundlichen Mann mittleren Alters und beschloss dem Alten „Leb wohl“ zu sagen.
Auf seinem Rückweg nahm er zum ersten Mal die Verwüstung seines Landes im vollen Umfange wahr. Er hielt bei jedem Untertan, den er traf einen Moment an und sprach freundlich mit ihnen. Es stellte sich heraus, dass sich die Lage in den letzten beiden Monaten schon ein wenig gebessert hatte. Man berichtete ihm, dass fast der ganze Hofstaat, das Land verlassen hatte, nachdem der Vorrat an Mondstaub zur Neige gegangen war. Sie alle hatten von einem Land gehört, wo der Mondstaub derzeit in Strömen floss. Die Steuereintreiber und Verwalter waren mitgezogen, so dass die Bauern ohne Aufsicht, aber auch ohne Führung wieder frei schaffen konnten. Und dennoch bot sich dem Prinzen ein grauenhaftes Bild.
Der König versprach den Bauern, dass sich nun alles zum Guten wenden würde und die Bauern waren ohne Zorn, da es schlechter sowieso nicht mehr werden konnte. Jamir war und blieb schließlich der Herrscher seines Reiches und wenn er nun dafür sorgen wollte, dass sich das Land wieder erholte, wollte man bleiben und ihm helfen.
Ganze 20 Tage war der König in seinem Reich unterwegs, um mit dem Volke zu sprechen, bevor er wieder seinen Hof erreichte.
Der Hof lag fast verlassen da. Nur Thakeall und paar ihrer engsten Freunde waren noch da und warteten auf ihn.
„Wo hast du nur gesteckt?“ rief ihm Thakeall entgegen. „Du kannst doch nicht einfach für Wochen verschwinden. Du weißt doch, dass nur du den Mondstaub kaufen kannst. Unsere Vorräte sind fast vollständig aufgebraucht. All unsere Freunde haben uns schon verlassen, weil sie glaubten, dass du nicht wiederkehren würdest. Du musst dringend neuen Mondstaub bestellen, dann werden sie schon wiederkommen.“
„Nein“, lehnte Jamir ihre Bitte kategorisch ab. „An diesem Hof wird es keinen Mondstaub mehr geben.“
„Wie? Keinen Mondstaub mehr?“ wollte Thakeall ungläubig wissen. „Was soll das heißen?“
„Was ich sagte“, erwiderte Jamir. „Keinen Mondstaub mehr. Hier sieh her, ich habe dir etwas mitgebracht.“ Er hielt ihr den Spiegel des Alten hin.
„Was ist das?“ fragte Thakeall.
„Ein Spiegel!“ antwortete Jamir.
„Ein Spiegel? Wir dürfen doch keine ...“
„Aber sicher dürfen wir. Wir nehmen ja auch keinen Mondstaub mehr.“
„Du bist verrückt!“ schrie ihn Thakeall an. „Entweder, du schmeißt diesen Spiegel sofort weg, oder ...“
„Oder was?“ wollte Jamir gelassen wissen.
„Oder ich nehme den Rest des Mondstaubes und ziehe mit den anderen unseren Freunden nach und verlasse dich“, drohte Thakeall.
„Gut, wenn du das willst, dann tue es. Ich jedenfalls bleibe hier und werde tun was nötig ist, damit mein Volk wieder in Frieden leben kann“, sprach Jamir ruhig und besonnen und hielt ihr nochmals den Spiegel hin. „Sieh dich an und bleibe, wenn du willst. Sonst gehe, niemand wird dich halten.“
Doch Thakeall wollte von Spiegeln nichts wissen, sie wandte sich von Jamir ab und zog mit ihren restlichen Freunden hinfort in ein anderes Land, in dem der Mondstaub in Strömen floss.
Jamir jedoch blieb nicht lange allein in seinem Schloss. Viele von denen, die früher gegangen waren kehrten zurück und halfen das Reich wieder aufzubauen. Die einstige Blüte, in der das Land unter seinem Vater König Wholtan gestanden hatte, würde Jamir wohl nicht mehr erleben, doch hoffte er, dass er eines Tages einen Sohn haben würde, der sein Werk für ihn vollenden werden würde.
Und Thakeall und die anderen? Na, wenn sie nicht gestorben sind, dann laufen sie noch heute von Hof zu Hof auf der Suche nach dem schönen, weißen Pulver des Gauklers.
Das Pulver des Gauklers (55) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.