Dealerboy

Kurzkrimi

"Bist du sicher, dass wir das tun sollten?" fragte Henry flüsternd.

"Vermutlich nicht", antwortete Jörg unwirsch. "Aber was bleibt uns übrig?!"

"Und wenn der nicht allein ist?"

"Halt endlich den Mund! Schau, da kommt schon wieder einer raus!"

Die brüchige Tür des heruntergekommenen Altbaus aus der Jahrhundertwende schloss sich krächzend hinter einer schlanken Gestalt im Halbdunkel wieder. Der Mann mit dem Kapuzenpulli drückte sich an der Hauswand entlang und beeilte sich leicht gebeugt wieder irgendwo in der Dunkelheit zu verschwinden.

"Das war jetzt der 14.", stellte Henry fest. "Das geht da zu, wie in einem Taubenschlag.

"Sag ich doch", grunzte Jörg zufrieden. "Heute ist Zahltag."

"Und die bringen alle ihr Geld dahin?"

"Die bringen das Geld von gestern Nacht und holen neuen Stoff für heute Abend", erklärte Jörg und steckte sich noch eine Zigarette an.

"Du solltest jetzt nicht rauchen", sagte Henry nervös. "Die könnten die Glut sehen!"

Jörg lachte verächtlich auf. "Und? Was soll’s? Wir tun doch hier nichts Illegales."

"Nein, noch nicht."

"So weit kommt es noch, dass es illegal ist einem Dealer sein Geld wegzunehmen!"

Jörg hatte da seine eigenen Ansichten. Aber Henry sah das eben so. Für Henry blieb ein Überfall ein Überfall, auch, wenn der Überfallene selber ein Gangster war.

"Da kommt der Letzte!" rief Jörg und schmiss seine Zigarette weg. "Es geht los!"

"Bist du sicher, dass da keiner mehr kommt?"

"Die letzten zwei Wochen waren es immer 15. Also ..."

Jörg war äußerst entschlossen. Weihnachten stand vor der Tür und er hatte es auch dieses Jahr wieder nicht geschafft, Geld für die Weihnachtsgeschenke beiseite zu legen. Er wusste genau, wie seine Ex-Frau wieder über ihn, den ewigen Versager, herziehen würde, wenn er nicht einmal zu Weihnachten, etwas für seine Kinder übrig hätte. Da spielte es keine Rolle, dass er die Beiden seit anderthalb Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Henry sah, wie Jörg die Waffe in seinem Blouson fest umklammerte. Jörg tat immer so hart, aber Henry kannte ihn seit dem Kindergarten und er wusste genau, wann Henry Angst hatte.

Umso ruppiger er wurde, umso mehr fürchtete er sich. Das war auch während der Scheidung so gewesen, als es um die Kinder ging. Leider führte Jörgs Art manchmal dazu, dass er eine eigentlich sichere Sache dadurch verbockte. So hatte er nicht nur das Sorgerecht, sondern auch gleich das Umgangsrecht verloren. Henry griff nach seiner eigenen Pistole und sagte: "Gut, packen wir’s!"

*

Die Tür zum Hausflur war offen, die Wohnung des Dealers befand sich im dritten Stock, Jörg hatte alles gründlich recherchiert.

Da waren zwei große Peace-Zeichen auf die Tür geklebt und völlig absurderweise prangte ein großer Aufkleber auf dem Briefkastenschlitz: "Keine Macht den Drogen!"

Henry hätte gelacht, als er das sah, aber irgendwie konnte er seinen Kiefermuskel nicht richtig entspannen.

"Fertig?" fragte Jörg und atmete unauffällig tief durch.

"Fertig!" nickte Henry ab.

Jörg klopfte. Es war das Klopfzeichen, dass er im Hausflur mehrfach belauscht hatte. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz.

Vier Sekunden lang tat sich nichts. Diese Stille war geradezu unnatürlich in einer Großstadt, wo man eigentlich in solchen Momenten immer irgendwo einen Krankenwagen hörte.

Dann wurde die Wohnungstür einen Spalt geöffnet. Ein schlecht rasierter Kerl, der die sechziger wohl noch nicht verdaut hatte, schaute irritiert durch den Schlitz.

"Ja?" fragte er leicht verunsichert.

"Wir kommen im Auftrag des Herrn!" sagte Jörg völlig cool. "Und wir wollen etwas von unserem himmlischen Konto abheben!"

Der Mann schaute Jörg an, als ob der nicht ganz dicht wäre. Vermutlich dachte er im ersten Moment noch an die Zeugen Jehovas, doch in diesem Augenblick froren seine Gesichtszüge ein. Er schaute in den Lauf von Jörgs Waffe und versuchte sofort die Tür wieder zu schließen.

Doch es war zu spät. Der Mann flog einen halben Meter zurück in den Wohnungsflur, weil Jörg die Tür mit aller Wucht aufgetreten hatte.

Dann ging alles ganz schnell. Henry hatte keine Wahl mehr. Auch er hatte seine Pistole gezogen und gab Jörg Deckung.

"Da hinten!" schrie Jörg und zeigte auf die offene Zimmertür.

Henry stürmte los. Die Waffe im Anschlag. In dem Wohnzimmer aus Möbeln vom Sperrmüll und alten Teekisten saß ein zweiter Kerl an einem viel zu tiefen Tisch. Vor ihm lag eine Knarre, ein kleiner Geldhaufen und eine Kiste mit kleinen braunen Fläschchen.

"Lass es!" befahl Henry mit fester, zittriger Stimme.

Langsam zog der Mann seine Hand, mit der er nach der Waffe greifen wollte, wieder zurück.

"Setz dich da hin!" schrie Jörg den anderen Mann an und schubste ihn auf einen alten Sessel, aus dem an allen Ecken und Enden die Füllung den Weg ins Freie suchte.

"Was soll das werden?" fragte der Mann am Tisch. Die beiden schienen völlig überrascht sein, hatten aber wohl keine Angst.

"Wir wollen Geld abheben!" erklärte Jörg. "Und das ist doch wohl nicht alles, oder!?" Er hatte auf das Geld auf dem Tisch gezeigt. "Mach mal gleich deine Taschen leer, Dealerboy!"

Henry zielte abwechselnd auf den einen, dann wieder auf den anderen Kerl, während Jörg das Geld vom Tisch nehmen wollte.

"Das könnt ihr nicht machen!" rief der Mann am Tisch.

Aber warum denn nicht? Alles lief genauso, wie Jörg es vorhergesagt hatte. Und die Polizei würden diese schrägen Vögel ganz sicher nicht rufen.

"Gib die Kohle her, Dealerboy!" rief Jörg und zielt mit der Pistole auf seinen Kopf.

"Hey, ihr wisst nicht, mit wem ihr es hier zu tun habt!" stellt der Kerl ganz ruhig fest. "Ich kann euch das Geld nicht geben, das nicht mein Geld!"

"Meinst du wir haben Angst vor dem großen schwarzen Mann im Hintergrund", erklärte Jörg. "Wir sind hier gleich wieder weg und niemand wird uns finden. Aber du hast keine Wahl. Du kannst dich entscheiden: Ein Loch in der Stirn oder eben in der Kasse!"

"Von mir aus!" sagte der Mann am Tisch, der hier offenbar etwas zu sagen hatte. "Aber ihr werdet diese Wohnung auf keinen Fall damit verlassen!"

"Ach nein?" höhnte Jörg. "Willst du uns vielleicht daran hindern?"

Henry versuchte die Fliege vor seinem Auge zu vertreiben. Daher war er einen Moment unaufmerksam. Das Ding nervte. Es flirrte ewig vor seiner Nase herum.

Jetzt schien auch Jörg mit der freien Hand etwas wegwischen zu wollen. Aber da war keine Fliege. Auf Jörgs Gesicht tanzten eine Menge winziger roter Punkte herum.

"Nein ich nicht", antwortete der Mann am Tisch auf den aber schon keiner mehr hörte. "Aber die hier!"

Henry brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen war für ein Geräusch er dort gerade gehörte hatte. Er hatte lange genug gedient und das Durchrutschen eines 9mm Verschlussblocks in einer Uzzi hätte er auch im Tiefschlaf erkennen können.

Er sah wir Jörg seine Waffe langsam auf den Tisch vor sich legte.

"Okay! Ganz ruhig!" sagte er. Und jetzt war er wirklich angstfrei und entspannt. Henry ließ seine Waffe am Zeigefinger zum Zeichen seiner Ergebenheit baumeln.

"Auf den Boden!" schrie jemand und dann bekamen die beiden nicht mehr viel mit. Außer, dass sie wenige Sekunden später ihre Hände mit Plastikbindern auf Rücken gefesselt bekamen und unsanft wieder vom Boden hochgerissen wurden.
"Ihr seid doch wohl echte Vollidioten!" behauptete der Mann mit dem Geld belustigt. "Was habt ihr eigentlich geglaubt, was ihr hier treibt!"

"Dich ausnehmen, Dealerboy!" zischte Jörg wütend, dem jetzt alles irgendwie recht zu sein schien.

"Dealerboy?!" wiederholte der Dealer.

Mehrere Leute im Raum lachten.

"Dealerboy? Ich glaube ich spinne! Wir haben heute Informanten-Sprechtag, ihr Schwachköpfe. Freitags tauschen wir hier Methadon und ein bisschen Bares gegen wichtige Informationen aus der Szene!"

Um die beiden festgenommenen Männer herum wollte das Gelächter gar kein Ende mehr nehmen.

"Herrgott: Dealerboy! Ich bin Polizist. Genauso, wie alle hier!"

Henry ließ den Kopf gesenkt. Er wollte Jörg nicht ansehen. Jörg war sein bester Freund und er wusste, dass Jörg es nur gut gemeint hatte. Niemals würde er ihm Vorwürfe machen, aber ein bisschen blöd war das schon.

"Wenn ihr Pappnasen in fünf Jahren wieder draußen seid und mal einen richtigen Dealer überfallen wollt, dann kommt vorher zu mir. Ich zeige euch, wo die bösen Buben sitzen. Damit tätet ihr mir sogar noch einen Gefallen!"

Aus den Augenwinkeln sah Henry, dass Jörg beinahe lächelte. Er wusste genau, was jetzt in seinem Freund vorging: Klar war er wieder der Depp, aber wenigstens, war er für die Sache mit den Weihnachtsgeschenken entschuldigt. Und das war sowieso das Einzige, was an seiner Seele gekratzt, wenn er die Kinder dieses Jahr wieder unentschuldigt enttäuscht hätte.

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