Der Hexenknoten

„Ja, schon gut, schon gut!“ Konrad winkte kopfschüttelnd ab. „Du kriegst ja deinen Willen.“

Letztlich lief es ja doch immer darauf hinaus. Aber in diesem Fall fiel Konrad das Nachgeben einigermaßen schwer. Der Tanz in den Mai gehörte für ihn seit fast 20 Jahren zu den schönsten Tagen eines Jahres. Er hatte seine Frau am ersten Mai kennengelernt und seitdem war der Tanz in den Mai nicht nur ihr offizieller Jahrestag, sondern auch immer wieder ein besonders schöner Einstieg in das neue Jahr.

Traditionell feierten sie in der Gaststätte „Zur schönen Aussicht“. Das Tanzvergnügen dort entsprach so ziemlich ihrem Altersdurchschnitt und die Aussicht von der Anhöhe hinab auf das beleuchtete Dorf im Tal war selbst bei leicht bewölkten Nächten sehr romantisch.

Aber nein, jetzt, wo die Schwiegermutter ins Haus gezogen war, fiel der romantischste Abend des Jahres als allererstes einmal ins Wasser. Die Schwiegermutter musste an diesem Abend unbedingt in den Kalleberger Forst. Warum wusste Gott allein.

Vor allem, warum gerade an diesem Abend, wo es doch gerade mal vier Monate her war, dass Helga aus dem Kalletal zu ihnen gezogen war? Der Hof war verkauft worden, weil sie ihn allein nicht bewirtschaften konnte und keine der Töchter bereit war, ihr Leben in den Dienst der Milchproduktion zu stellen.

Als Konrad dann vor der Entscheidung stand, die Schwiegermutter aufzunehmen, oder den Hof fortzuführen, war auch ihm die Sache ziemlich klar.

Gut, nun war der Hof verkauft, die Schwiegermutter unter dem Dach einquartiert und statt eines romantischen Abends mit seiner Frau, setzte Konrad seinen neuen dreier BMW vorsichtig, rückwärts aus der Garage, um spät am Abend eine Erinnerungstour ins Kalletal zu starten.

*

Die Sonne ging bald unter. Bei der einsetzenden Dämmerung gab es doch im Kalleberger Forst nichts zu sehen, dachte Konrad.

„Sie hat schon ihren Grund“, bemerkte Anja genervt. „Nun gib endlich Ruhe und fahr Mutti da hin.“

Konrad bog auf den Forstweg ein. Das war hier mitten in der Pampa. In zwei Stunden könnte man in dieser Einöde die Hand nicht mehr vor den Augen sehen. Soviel war sicher.

Unsicher war, ob sein BMW bei diesen tiefen Spurrillen nicht irgendwann unerwünschten Bodenkontakt hätte. Konrad war jetzt in jeder Hinsicht beunruhigt. Er war froh, als seine Schwiegermutter ihn, an einer Kreuzung, bat rechts ran zu fahren und zu halten.

Die beiden Frauen stiegen aus. Für ihr Alter war Helga noch gut zu Fuß. Und zwei Taschenlampen hatte sie vorsorglich auch dabei. Also alles bestens.

„Warte hier!“ wies Anja ihn an. „Wir kommen so in einer Stunde wieder zurück.“

„In einer Stunde?“ Konrad konnte nicht fassen, dass seine Frau tatsächlich von ihm erwartete, hier allein im Wald eine Stunde an der Kreuzung zweier Forstwege zu warten.

„Hast du Angst?“ fragte seine Frau sarkastisch.

Natürlich hatte er keine Angst.

„Natürlich nicht!“

Also Angst konnte man jetzt nicht sagen. Aber ein bisschen unheimlich war das schon.

„Also“, sagte Helga. Sie schlug die Autotür zu und eilte ihrer Mutter nach, die bereits einige Meter in den Forstweg hineinmarschiert war.

Fassungslos starrte Konrad in die dichter werdende Dunkelheit außerhalb der Windschutzscheibe. Unregelmäßig blitzten dort die Kegel zweier Taschenlampen in unbestimmbarer Ferne auf. Dann noch einmal, wie aus Versehen, dann nicht mehr.

Stille.

Dunkelheit.

Beklemmung.

Konrad schluckte. Er sah auf sein Handy. Ein unheimlicher Lichtschein in seinem Käfig. Schon drei Minuten rum.

Langsam dimmte das Display wieder runter. Kurze völlig Blindheit, dann wieder einfach nur Dunkelheit.

Konrad wartete.

Wenn er jetzt wieder auf die Uhr schauen würde? Weitere zwei Minuten? Das Display flammte auf. Immerhin eine. Das könnte er ewig so spielen.

Er versuchte sich so lange zu beherrschen, bis wenigstens drei Minuten herum waren. Das konnte dauern. Das Quietschen der Wischblätter auf der trockenen Scheibe wirkte irgendwie witzig. Konrad versuchte es gleich nochmal. Dann überlegte er, was neue Wischblätter bei einem BMW kosten würde und ob sie eine Stunde Spaß überstehen würden.

Dann doch lieber das Handyspiel. Aber diesmal trickste er das Handy aus. Er hatte den Zündschlüssel umgedreht und der schwach erleuchtete Tacho hatte ihm verraten, dass die drei Minuten noch längst nicht um waren.

Konrad lächelte gewitzt und startete den Motor. Ein Geräusch. Endlich zuhause. Vielleicht hatte er sich doch für die falsche Automarke entschieden. Nun ja, im Prospekt war ja auch nirgends die Rede von der Freude am Stehen. Von dieser Überlegung an empfand Konrad die Rückenlehne als ergonomisch unvorteilhaft. Zumindest im Stande.

Kaum bewegte sich der Wagen fühlte Konrad sich wieder besser. Er konnte ja wenigstens schon mal wenden. Das Licht der Scheinwerfer schoss durch den Wald und brach sich milchige Schneisen zwischen die Bäume.
Konrad wendete sehr sorgfältig. Nicht nur weil er kein Festfahren oder einen Schaden verursachen wollte, sondern auch, um Zeit zu schinden.

Als er sich widerwillig entschloss dem Motor den Zündfunken zu entziehen, bedauerte er, dass die neuen Autos nicht mehr so lange nachliefen. Er entschied sich, die letzten 50 Minuten jetzt aber ohne diesen technischen Schnickschnack überbrücken musste.

*

Spontan fasste Konrad einen folgenschweren Entschluss. Er stieg aus. Der Soundtrack der Zivilisation endet mit Schließgeräusch der Autotür. Doch so wollte Konrad es nicht enden lassen. Ein Relais, das die Türen verriegelte und der Blinkanlage ein letztes Aufbäumen befahl, war das endgültige Aus.

Konrad stand allein neben seinem Auto im Wald. Allmählich wichen die gewohnten Geräusche einem zunehmenden Rauschen und leichten Knistern oder Knacken. Konrad spürte die leichten Windstöße, die sich ihren Weg durch das Labyrinth aus Baumstämmen suchten und hörte sie auch.

Was nun? Er war kein Abenteurer und mochte den Wald nicht besonders. Vermutlich waren hier auch Tiere und ganz bestimmt waren sie ihm in dieser Situation hoffnungslos überlegen. Sie beobachteten ihn. Konrad fühlte sich ungemütlich. Er sehnte sich nach menschlicher Nähe und einem gewissen Schutz der Gruppe. Was also sprach dagegen, seiner Frau zu folgen? Vielleicht waren sie ja ganz in der Nähe. Vielleicht besuchten sie ein vor Jahren beerdigtes Haustier? Oder so. Weit konnten sie bestimmt nicht sein. So gut war Helga nun auch nicht mehr zu Fuß.

*

An die Dunkelheit konnte man sich gewöhnen. Den Forstweg konnte Konrad so eben noch erahnen. Mehr aber auch nicht. Trotzdem beschloss er diesen Weg ein gutes Stück hinein zu gehen.

So ohne Sicht, waren Entfernungen kaum zu schätzen. Konrad schaute aufs Handy. Er war den Weg jetzt sechs Minuten gegangen. Wie weit kam man in vier Minuten? Nachts? Sein Auto konnte er schon lange nicht mehr sehen. Aber das war eigentlich schon nach zwanzig Schritten so gewesen. Unheimlich war es trotzdem.

Im Prinzip war er jetzt so weit, wieder umzukehren. Noch einmal 6 Minuten zurück und er hatte die Wartezeit bestimmt auf unter dreißig Minuten reduziert. Das war doch zu schaffen? Oder?

Unschlüssig stand er auf dem Weg herum und schaffte es bei all diesen Geräuschen keinen klaren Gedanken zu fassen. Inzwischen glaubte er sogar eine Art Gesang zu hören.

Entschlossen drehte Konrad sich um und wollte zurück. Doch in der Drehung sah er eine Flamme zwischen den Bäumen aufblitzen. Er zögerte keinen Moment. Wo Feuer war, waren Menschen. Es war ein trockene Ast, der sich in seinem Hosenbein verhedderte, der ihn an seinem weiteren, energischen Vorgehen hinderte. Er blieb angewurzelt stehen. Ein Weg war etwas anderes. Konrad wusste im Moment nicht weiter. Dann fingerte er sein Handy heraus und plötzlich war ihm klar, warum da eine Kamera mit Blitzlicht drin war.

Tatsächlich sah die Kamera mehr als er.

Er macht drei Fotos von seiner Umgebung und entdeckte den kleinen Trampelpfad, keine zwei Meter von sich entfernt. Nun wurde alles gut.

Auf dem Pfad kam er flott voran. Die Flammen waren gar nicht so weit weg, wie gedacht. Von dort kam auch der Gesang. Es waren Stimmen und Konrad brauchte ziemlich lange, um die Stimme seiner Frau zu erkennen. Singen hatte er sie bisher nur zweimal bei Konfirmationen in der Kirche gehört.

Als Konrad erkannte, dass vor ihm mehrere kleine Feuer den Wald erleuchteten wurde er vorsichtig. Etwas sagte ihm, dass er hier besser nicht stören sollte.

Trotzdem ging er leise näher heran. Einige Sträucher hatten ja schon Blattwerk ausgetrieben und dahinter hielt er sich versteckt.

*

Hier war er nicht erwünscht, soviel war sicher. Seine Frau stand mit entblößtem Körper zwischen zwei Fackeln und sang etwas halblaut, in einer ihm unverständlichen Sprache.

Schlimmer noch war, dass seine ebenso entblößte Schwiegermutter auf einem Findling saß und in obszöner Art und Weise ihre Scham über den Felsen rieb. Soweit er das nachvollziehen konnte, sang sie denselben monotonen Text. In ihren Händen hielt sie einen Handschuh, der offenbar eine wichtige Bedeutung für sie hatte.

Konrad wusste bereits jetzt, dass er diese Szenerie lieber nicht gesehen hätte und dass er zukünftig, wenn seine Frau das wollte, er lieber auf sie im Auto warten würde.

Diese Art von Zeremonie schien allmählich ihren Höhepunkt zu erreichen, allemal aber die Schwiegermutter. Anja gab ihr eine Art Seil und in dem Moment als ihr ein ziemlich spitzer Schrei entfuhr, zog Helga einen Knoten, den sie um den Handschuh gelegt hatte, mit aller Kraft zu.

Seine Schwiegermutter bei einer Art von Orgasmus, und das mitten im Wald auf einem Felsen, beobachtet zu haben, schockierte Konrad dermaßen, dass er sich unverzüglich an den Rückzug machte. Nachdem er den Pfad hinter sich gebracht hatte, schlug sein Herz langsamer und er eilte vorsichtig den Forstweg hinunter. Inzwischen konnte er wieder einigermaßen sehen und sein Auto war gar nicht so weit weg.

Langsam wurde ihm bewusst, dass er eine Sache von seiner Frau bisher nicht gewusst hatte. Sie war eine Hexe. Wenigstens begriff er jetzt, warum sie heute hier waren. Nein, das begriff er nicht, aber zumindest, warum heute. Klar, es war die Walpurgisnacht! Da trieb sich manche Frau spät nächtens auf einem Felsen herum. Aber seine? Seine doch nicht.

*

Konrad war noch mitten im Grübeln, als die Beifahrertür geöffnet wurde.

„Du hast schon gewendet?“ stellte Anja fest. „Das war fein mitgedacht.“

Sie sahen aus wie normale Frauen. Helga stöhnte, als sie sich auf den Rücksitz quetschte, aber ganz anders als vorhin. Sie ließ ihre große Tasche im Fußraum des Fonds verschwinden und wirkte irgendwie entspannt und zufrieden.

Fast hätte Konrad gelächelt, als er sie im Rückspiegel sah. Aber dann wurde das Bild von seiner Schwiegermutter auf dem Findling doch wieder überdeutlich.

Schweigend fuhren sie nach Hause.

*

Über diesen Abend im Wald wurde nie wieder gesprochen, aber Konrad ging er so schnell nicht aus dem Kopf. Schließlich hatte er den begründeten Verdacht, dass seine Frau, ganz sicher aber seine Schwiegermutter, eine Hexe war. Und schon bald stellte Konrad einige Veränderungen fest.

Besonders auffällig war, dass auf einmal ein Apotheker bei ihnen auftauchte. Keiner wusste, wo er herkam. Er war Witwer und wohlhabend. Und er hatte spontan einen echten Narren an seiner Schwiegermutter gefressen. Nach nur zwei Wochen, war der Mann unsterblich verliebt und wollte, dass Helga ihn heiratete und zu ihm zog.

Konrad war das natürlich recht. Endlich wäre er mit seiner geliebten Anja allein. Er vermisste die schönen, zweisamen Abende mit seiner Frau, wo keine Schwiegermutter im Sessel sitzend, strickend ein Auge auf sie hatte.

*

Am Tag des Umzugs half Konrad brav mit, Helgas Sachen zu packen. Erstaunlicherweise schien Helga es als vollkommen selbstverständlich hinzunehmen, dass sich in ihrem Alter noch ein neuer Partner fand.

Konrad hingegen fand, dass das ein unglaubliches Glück war. Es war ja nicht so, dass Helga eine solche Topfigur wie seine Frau hatte, und so ein schönes, immer fröhliches Gesicht hatte sie auch nicht.

Im Gegenteil. Helga war alt, übergewichtig und schaute meistens ziemlich missmutig drein. Ihr bevorzugter Gesichtsausdruck war schärfste Missbilligung, eigentlich von Allem.

Gedankenverloren, räumte Konrad den Inhalt der Kommode in die Umzugskiste. Ordentlich war Helga nun auch nicht gerade.

Konrad spielte mit den Handschuh der mit einem Nylonstrumpf umwickelt war. Vermutlich hatte Helga den Handschuh mit dem zweiten Strumpf verwechselt. Konrad schaute in die Schublade, ob er wohl den zweiten Handschuh fand.

Aber da war keiner.

Nun wusste Konrad nicht, was er mit dem Handschuh machen sollte. Unschlüssig schaute er nach dem Etikett: Norbert von Lahnstein. Da war ein Name eingestickt. Was für ein Aufwand? Wer stickte schon seinen Namen in Handschuh oder hatte gar Sockenetiketten? Herr von Lahnstein offenbar!

Erst jetzt fiel ihm ein, dass dies der Name des Apothekers war. Wieso hatte der einen einzelnen Handschuh in Erikas Schublade vergessen? Und wieso war der mit einem Nylonstrumpf umwickelt?

Jetzt erinnerte sich Konrad an die Walpurgisnacht. Hatte Helga da nicht etwas in der Hand gehalten? Und später dann verknotet? War das nicht ein Handschuh? Der Handschuh war nicht nur umwickelt. Vorsichtig fummelte Konrad an dem Bündel herum. Richtig. Der Nylonstrumpf war verknotet. Der Apotheker war aber erst zwei Tage nach der Walpurgisnacht bei Ihnen aufgetaucht? Wo hatte sie wohl diesen Handschuh her?

Konrad beeilte sich, die Kiste voll zu packen. Er hatte inzwischen den Verdacht, dass seine Schwiegermutter eine Art Liebeszauber gegen Herrn von Lahnstein angewendet hatte.

Sobald er Zeit hatte, las er alles über Liebeszauber nach, was er finden konnte. Das war unheimlich. Irgendwie musste Helga sich diesen Handschuh angeeignet haben. Der Platz im Wald war wohl ein Hexenstein. Davon gab es viele und es hieß, wer mit nacktem Gesäß in der Walpurgisnacht auf so einem Hexenstein saß und an seinen Liebsten dachte, konnte, wenn er ein Souvenir des Opfers mit einem Strick umwickelte, damit den Liebsten dazu bringen, dass er der ihm in blinder Liebe verfiele.

Genau das hatten seine Schwiegermutter und seine Frau in dieser Nacht getan. Sie hatten einen Liebeszauber gegen den Apotheker ausgeübt.

Konrad wurde etwas flau im Magen, als er darüber nachdachte, welche Wirkung dieser Liebeszauber offenbar gebracht hatte. Der Apotheker stand ja, nur zwei Tage später, förmlich in Flammen. Ein völliger Kontrollverlust.

In Konrads Gehirn hatte sich längst ein Gedanke eingenistet, den er hartnäckig zu unterdrücken versuchte. Er dachte einfach nicht daran. Er hatte es überhaupt noch nie gedacht und er würde an so etwas niemals denken. Nicht im Mindesten.

Davon war er immer noch überzeugt, als er die Wäscheschublade seiner Frau bereits aufgezogen hatte. Ihre Büstenhalter und Miederhosen lagen in zwei Stapeln wohl geordnet in Reihen vor ihm. Gleich daneben ein eigenes Fach mit Strümpfen. Dann Strumpfhosen und Bodies. Hier konnte er nicht einfach herumwühlen. Das fiele ihr sofort auf.

Aber er musste auch gar nicht großartig herumwühlen. Ein verdächtiges Bündel mit einem Nylonstrumpf umwickelt, lag fast offensichtlich an der Rückwand der Schublade. Notdürftig verdeckt von einem Stapel Nachthemden.

Vorsichtig zog Konrad das Bündel heraus. Das kam ihm ziemlich bekannt vor. Er wickelte den Strumpf ab und sah, dass es ein T-Shirt war, eines, das er mal an einem Baggersee verloren hatte.

Damals hatte er geglaubt, dass der Wind es beim Baden weggeweht hatte. Nun wusste er es besser. Seine Frau hatte es genommen. Sie hatte damit einen Liebeszauber gegen ihn angewendet. Das war in der Abschlussklasse gewesen. Und im Jahr darauf, war er mit ihr zusammengekommen. Am 1. Mai!

Konrad öffnete den Knoten. Er hatte keine genaue Vorstellung, was dann passieren würde. Vielleicht ein Blitz? Ein Geräusch? Das laute Scheppern eines gebrochenen Herzens? Oder eben: Nichts.

Eigentlich hätte er jetzt schon erwartet, irgendeine Reaktion zu verspüren. Aber es war ihm natürlich klar, dass es keine echten Hexen, keinen echten Liebeszauber gab.

Mit einem Anflug von Enttäuschung umwickelte er das Shirt wieder mit dem Nylonstrumpf und legte das Bündel wieder an seinen Platz.

Man konnte so nicht sehen, dass er den Knoten gelöst hatte. Aber er wusste ja, dass es nun keinen Hexenknoten mehr gab. Und das beruhigte ihn. Er wollte sich beweisen, dass er nicht von solcher Zauberei gefangen war und dass seine Liebe zu Anja nichts mit irgendwelchen Hokuspokus zu tun hatte.

*

Als Anja am Abend nach Hause kam, war sie äußerst schlecht gelaunt. Sie hatte ja ab und zu mal Ärger auf der Arbeit, aber so schlimm wie heute, war es schon lange nicht mehr gewesen.

Konrad konnte sich eigentlich nicht daran erinnern, sie jemals mit so schlechter Laune erlebt zu haben. Ihre Laune war dermaßen schlecht, dass selbst ihr, sonst so strahlendes, Gesicht darunter litt. Sie hatte tief gefurchte Wutfalten, die sich bis zum Hals hinunter zogen. Ihre ganze Art war barsch und unfreundlich. Zwar entschuldigte sie sich, nachdem sie ihn fast angeschrien hatte, weil er die Wäsche im Trockner vergessen hatte. Aber so hatte Konrad seine Frau noch nie erlebt. Er war schockiert.

Richtig schockiert war er aber, als die Laune seine Frau sich in den nächsten drei Tagen überhaupt nicht bessern wollte. Sie herrschte ihn bei jeder Gelegenheit an, war ungenießbar zickig und ihr sonst so faszinierendes Antlitz war vergrämt und strahlte fast immer eine kaum kontrollierbare Wut aus.

Überhaupt kommandierte sie ihn nur noch herum. Das Leben mit ihr war unerträglich geworden. Selbst beim Sex, wo sie früher immer perfekt harmonierten, behandelte sie ihn nur noch, wie ein programmierbares Sexspielzeug. Mach dies, mach‘s so und du weißt doch, wie ich es mag.

Beim Einkaufen dackelte er hinter ihr her, ganz so, als ob sie ihn wie ein Schoßhündchen ausführte und wenn sie auf Freunde trafen, stellte Konrad fest, dass sie ihm immer wieder über den Mund fuhr und ihn bloßstellte.

Früher hatten sie ihre Geschichten gern gemeinsam erzählt, es war immer so ein vertrautes Wechselspiel gewesen. Er fing die Geschichte an und überließ dann ihr die Pointe. Aber nun ...?

Sogar die romantischen, zweisamen Abende vor dem Fernseher, waren nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Ewig musste er ihr etwas aus der Küche besorgen, ihre geschwollenen Füße massieren, die früher bei weitem nicht so dick und plump waren oder ihren Nacken durchkneten. Sonst hatten sie immer vor dem Fernseher gekuschelt, nun war es mehr eine Art Arbeit geworden.

Am Ende der Woche war Konrad so genervt, dass er sich fragte, wieso er diese Frau überhaupt einmal geliebt hatte. Zum ersten Mal in ihrer Beziehung durchquerte das Wort „Trennung“ seine Gedankenwelt.

Er war geschockt. Seine Gedanken kreisten wie gelähmt um die Frage, wie es soweit hatte kommen können. Seine Gedanken kreisten um die Schublade. Sie kreisten um den Knoten und fanden die Lösung.

Konrad ging hinauf ins Schlafzimmer und öffnete zum zweiten Mal die Wäscheschublade seiner Frau. Er zog das Bündel hervor, wickelte den Nylonstrumpf ab und stellte den Knoten wieder her. Jedenfalls so, wie sich zu erinnern meinte. Wieder passierte nichts. Das hatte Konrad jetzt auch nicht erwartet. Er verstaute das Bündel hinter den Nachhemden und setzte sich mit einem Glas Rotwein in die Küche. Dort wartete er auf seine Frau. Seine richtige Frau.

*

„Ich hatte doch Kartoffeln auf den Zettel geschrieben“, schnauzte Anja, als sie grußlos den Eisschrank geöffnet hatte und sich ein Glas Weißwein genommen hatte.

„Kannst du nicht einmal eine Sache ordentlich machen?“

Nein, das war nicht seine Frau. Das war immer noch das gleiche Biest, das ihn nun schon die ganze Woche über gequält hatte. Konrad war erschüttert. Warum hatte das jetzt nicht funktioniert?

Im Laufe der nächsten drei Tage wurde Konrad klar, dass er den Knoten, den er gelöst hatte nicht wieder verknoten konnte. Er hatte noch zwei weitere Versuche unternommen, aber ohne Erfolg. Jetzt stellte sich für ihn ernsthaft die Frage, ob er seine Frau verlassen sollte.

Er tat es nicht. Stattdessen beichtete er Anja, was er getan hatte.

„Du Idiot“, schimpfte seine Frau sofort los. „Deshalb bist du seit zwei Wochen so ungenießbar!“

„Ich, ungenießbar?!“ echauffierte sich Konrad. „Du bist doch wohl hier die Tochter Satans!“

„Ach ja? Wenn ich dir so auf die Nerven gehe, dann pack doch deine Sachen und verschwinde einfach! Das ist doch typisch für euch Männer!“

Anja hatte ja wohl völlig den Überblick verloren. Wie hatte er es nur mit so einer Frau aushalten können, all die Jahre?

„Ja, das muss ich dann wohl!“

„Na klar. Auf einmal! Auf einmal bin ich nicht mehr gut genug für dich, ja? Weil ich ein wenig älter geworden bin, ja? Solls jetzt was Junges sein?“

Konrad war deprimiert. Er wusste, dass er Mist gebaut hatte. Trotzdem konnte er mit dieser Frau nicht mehr zusammenleben. Er riss seinen Kleiderschrank auf, um seine Sachen zu packen.

„Verschwinde bloß. Lass mich ruhig sitzen!“

In Anjas Stimme war nicht der geringste Zweifel zu erkennen, dass sie womöglich im Unrecht sein könnte. Offenbar betrachtete sie ihn wirklich als so etwas wie ihr Eigentum. Konrad stutze. Die vergangenen Jahre flogen an ihm vorbei. Wie konnte es sein, dass er all die Jahre nicht bemerkt hatte, wie sie wirklich war? Und wieso dachte er bis vor zwei Wochen, dass sein Leben wirklich toll war?

Konrad zögerte einen Augenblick zu lange und schloss dann unvermittelt die Schranktüren wieder.

„Was ist? Du willst doch weg! Hau schon ab!“

„Nein!“ sagte Konrad energisch.

„Was nein?“

„Ich werde nicht gehen!“

„Glaubst du, dass ich mich deinetwegen ändere, vielleicht werde ich ja wieder jünger, oder was?!“

„Nein!“

„Was willst du dann?“

Inzwischen wusste Konrad was er wollte. Er wollte sein früheres Leben wiederhaben.

„Mach es wieder heil!“ sagte er und hielt ihr das Bündel aus ihrer Schublade hin.

Es war das erste Mal, dass Anja nicht sofort losschimpfte. Sie stutzte einen Moment.

„Du willst bei mir bleiben, obwohl du weißt, dass ...“

„Mach es heil!“ kommandierte Konrad jetzt. „Ich will, das alles wieder ist, wie es war. Mach es heil!“

Anja war immer noch sprachlos. Offenbar hatte sie mit so einer Reaktion nicht gerechnet. „So einfach geht das nicht“, sagte sie dann enttäuscht. „Ich kann den Knoten nicht einfach wieder herstellen.“

„Ich kann aber so nicht mit dir zusammenleben. Nicht einmal bis zur nächsten Walpurgisnacht“, behauptete Konrad verzweifelt.

„Wieso Walpurgisnacht?“ wollte Anja verwirrt wissen.

„Geht dieser Liebeszauber nicht nur in der Walpurgisnacht?“

„Nein, wie kommst du darauf. Es muss halt Neumond sein.“

Konrad war erleichtert. Das waren gute Neuigkeiten. „Gut, die zwei Wochen halte ich gerade noch durch. Aber dann ist alles so wie früher, ja?“

„Wenn du willst, kann ich das machen.“

„Ja, ich will!“ antwortete Konrad und wiederholte in diesem Moment bei vollem Bewusstsein, sein Ehegelöbnis.

„Aber dir ist klar, dass du dann weißt, dass es einen Hexenknoten gibt“, fragte Anja nach.

„Wenn ich dich nur wieder liebe, soll mir alles andere recht sein“, behauptete Konrad aus tiefer Überzeugung heraus.

„Das ist schön. Ich werde auch versuchen, es dir bis dahin so leicht wie möglich zu machen. Ganz ehrlich.“

Das waren leider die letzten freundlichen Worte, die Anja für die nächste Zeit an ihn gerichtet hatte.

*

Es waren wirklich schwere zwei Wochen gewesen. Seine Frau war einfach unerträglich verbittert, alt und boshaft. In den letzten Tagen dimmte Konrad seine Verzweiflung mit reichlich Alkohol herunter. Das verbesserte zwar das Klima zuhause nicht, aber es machte es erträglicher.

Dann war es endlich soweit. Neumond. Seine Frau nahm ihn mit zu dem Hexenstein. Diesmal hatte er im dunklen Wald weit weniger Angst. Vielleicht, weil er ein deutliches Ziel vor Augen hatte.

Anja entzündete die mitgebrachten Fackeln, entkleidete sich vollständig und setzte sich auf den Stein. Dann stimmte sie diesen fremdartigen Gesang an und begann mit kreisenden Bewegungen, die ihm sehr bekannt vorkamen, auf dem Stein hin und her zu rutschen.

Je länger Konrad sie im Schein des Feuers betrachtete desto schöner wirkte ihre Erscheinung. Ihre Gesichtszüge entspannten sich immer mehr. Nach und nach straffte sich ihre Haut und das Lächeln drängte ihre Wut mehr und mehr zurück. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie gleich kam. Anja stöhnte einmal leise aber irgendwie vertraut energisch und riss mit aller Kraft den Knoten zu.

In diesem Moment erstrahlte sie wieder in alter Schönheit. Und es war Konrad vollkommen klar, dass er diese Frau über alles liebte und sie niemals verlassen würde. Und er würde sicherlich nie wieder an die Schublade mit ihrer Unterwäsche gehen. So eine Dummheit könnte er auch keinem anderen Mann empfehlen.

Hexenknoten (105) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.