Die Frau des Jägers

Die Luft hier draußen war klar und frisch. Einem Städter konnte sie schon einmal die Lunge verätzen. Hinter einem Schleier aus Dunst hatte sich irgendwo der Sonnenaufgang ereignet. Man konnte den rötlich schimmernden Glutball in dieser Milchsuppe aber bestenfalls erahnen.

Manfreds Atem verschlechterte die Sicht noch. Es war nicht schwer sich einzubilden, dass womöglich er es war, der all diesen Dunst verursachte. Aber vermutlich war es mehr ein Gemeinschaftsprojekt, denn um ihn herum standen noch dutzende von anderen Menschen, die, teils schnaufend, ein und ausatmeten.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er die dunkelhaarige Frau, die sich neben ihm bückte, um einige aus ihrer Tasche gefallene Patronen aufzuheben.

„Nicht nötig. Vielen Dank!“

Zumindest ihren grünen Filzhut, der ihr in diesem Moment vom Kopf gerutscht war, konnte er aufheben.

„Ach, herrje.“ Der Knoten ihrer Haare war wohl in der Hauptsache durch den Hut zusammengehalten worden. Sie schüttelte die über die Schulter hängenden Haare ein wenig aus. Manfred hielt ihr die Kopfbedeckung hin. Es sah eher ungeschickt aus, wie sie versuchte die Haare wieder zusammen zu stecken. Sie griff nach dem Hut und setzte ihn hastig wieder auf. Ja, eindeutig, das sollte ihre Haarpracht im Zaum halten.

„Danke. Ich habe die Spangen im Bad liegen lassen. Jetzt kann ich unmöglich zurück. Mein Mann ist passionierter Jäger und er wäre ernstlich beleidigt, wenn seine Frau den Saisonbeginn wegen ein paar alberner Haarspangen verpassen würde.“

Manfred folgte ihrem Blick. Ein ziemlich dicker Mann mit Schnauzbart und einer Zigarre im Mund, nickte in diesem Moment zu ihnen herüber.

„So alt wirkt Ihr Mann aber gar nicht“, stellte Manfred fest.

„Bitte?“ Die Frau mit dem Hut schien verärgert. Dann änderte sich ihre Miene plötzlich, so, als ob sie etwas verstanden hätte. „Passioniert, nicht pensioniert!“

Manfred hasste Fremdwörter. Die klangen alle irgendwie ähnlich und bedeuteten immer etwas anderes und manchmal sogar das Gegenteil. Er schämte sich ein wenig, dass er sich nie merken konnte, was was bedeutete.

„Mit wem sind Sie eigentlich hier?“ wollte die Jägerin jetzt von ihm wissen.

„Eigentlich bin ich allein.“

„So!?“ Die Frau war erstaunt. Offensichtlich war es nicht üblich, allein auf die Jagd zu gehen. Genau genommen war Manfred ja auch nicht hier, um zu jagen.

„Ja, ich gehöre zu den Treibern. Das ist mal was anderes als Parkwege zu pflastern. Eigentlich bin ich nämlich Gartenbauer. Also genau genommen: Gartenbauhelfer“, erklärte Manfred.

„So? Ich verstehe.“ Ihr Tonfall hatte sich mit einem Male der Umgebungstemperatur angepasst. „Die Treiber versammeln sich dort hinten, bei der Scheune. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Ziehen Sie eine dieser orangenen Warnwesten über, damit man weiß, wen man vor sich hat. Sonst kommt es leicht mal zu einem Unfall!“

Die Frau ließ Manfred ohne ein weiteres Wort stehen und schloss sich der Gruppe um ihren Mann herum an. Das schien ein vergnügter Haufen zu sein. Lautstarkes Gelächter kam von dort drüben, es wurden Zigarren geraucht und sich mit Schnaps aufgewärmt.

Die Frau hatte echt Klasse. Seufzend zwang Manfred sich, ihr nicht länger nachzugucken. Er machte sich auf den Weg zu der Scheune, meldet sich beim Treiberführer und nahm seine Warnweste in Empfang. Zwei Tage sollte er hier als Treiber arbeiten. Das war ein netter Nebenverdienst am Wochenende und die frische Luft tat ihm darüber hinaus richtig gut.


Treiben war einerseits eine leichte, andererseits eine nicht ganz ungefährliche Sache. Manfred und die anderen Treiber fuhren in zwei Transportern Richtung Norden. Von dort sollten sie das Wild auf eine große Lichtung zutreiben. Am Ziele angekommen stieg all 50 Meter einer der Treiber aus. Sie bildeten eine lange Kette und stapften dann möglichst in einer halbkreisförmigen Linie durch das Unterholz.

Manfred versuchte, den Nebenmann nicht aus den Augen zu verlieren, aber das war gar nicht so einfach. Sobald man ins Nadelholz kam, hörte man die anderen nur noch.

Die Tatsache, dass Manfred sich hier nicht auskannte und sie alle gemeinsam auf eine Gruppe von schießwütigen Bewaffneten zuliefen, beunruhigte Manfred nun doch ein wenig. Gut, er trug diese Warnweste, aber er hatte auch gesehen, wie viel Schnaps da auf dem Hof geflossen war. Dazu kam dann noch der Bodennebel. Also berauschend waren seine Überlebenschancen in dieser Situation nicht gerade. Im schlimmsten Fall wurde er mit einer Wildsau verwechselt.

Manfred reduzierte die Kraft mit der er seinen Stock gegen die Bäume schlug. Nicht auffallen war wohl das Beste. Seine Schläge wurden fast zaghaft, je näher sie der Lichtung kamen, wo die Jäger warten mussten.

Plötzlich schoss eine Wildsau aus dem Unterholz und brach, nur wenige Meter an ihm vorbei, durchs Gehölz. Manfred blieb wie ein Baum, nämlich angewurzelt aber nur halb so standhaft, stehen. Er wäre ja weggelaufen, aber er hatte die Sau gar nicht kommen sehen.

Dass es tatsächlich eine Sau, war konnte er zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber so, wie sie rannte, war es eine. Manfred begriff in diesem Moment, was man meinte, wenn man vom Fahren wie eine gesengte Sau, sprach.

Der Treiber neben ihm schien das Tier gar nicht bemerkt zu haben. Es war ja auch eigentlich niemand sonst zu sehen. Manfred beschlich der Verdacht, dass einige der Treiber sich aus dem Staub gemacht hatten, oder zumindest ein ganzes Stück zurückgefallen waren. Aus Gründen der eigenen Sicherheit vermutlich. In dieser Sekunde wurde ihm auch klar, dass das Wild dahin fliehen würde, wo keine lauten Geräusche zu hören waren. Also: Zu ihm!

Schlimmer noch: Es war eine unbestreitbare Tatsache, dass die besoffenen Jäger dorthin schießen würden, wo das Wild war. Also auch: Zu ihm! Daraus folgte ...

Manfred nahm sich nicht die Zeit, den Gedanken zu Ende zu bringen. Er drosch wie ein Verrückter auf die Bäume ein, schrie aus vollen Hals und um das Letzte zu geben, begann auch noch in exzentrischen Kreisen herum zu laufen. Er gebärdete sich wie wahnsinnig. Doch es half nichts. Das Pfeifen, das er hörte waren Querschläger, die von den Bäumen abprallten.

„Hört auf ihr Vollidioten!“ schrie er und warf sich zu Boden. Keine Minute zu spät, wie er feststellen musste. Schon pfiff wieder ein Querschläger über seinen Kopf hinweg.

„Hey, du Spinner!“ rief eine Frauenstimme genervt. „Sieh bloß zu, dass du aus der Schießschneise kommst! Oder bist du lebensmüde?“

„Bitte?“ brüllte Manfred zurück. Er sprang auf. Weshalb durften Frauen überhaupt einen Jagdschein machen? Doch wohl nur, damit wenigstens einer nüchtern genug war, um das Gewehr zu sichern.
„Der hau ich aufs Maul“, fluchte Manfred leise zischelnd zu sich selbst.

„Runter, du Trottel“, grunzte die Schönheit vom Hof und legte eiskalt auf ihn an. Gut, sie war vielleicht hundert Meter weit weg und bis die Kugel ihn erwischen würde, blieb Manfred sicherlich noch die Zeit, ihr herrlich schwarzes Haar zu bewundern, sie hatte nämlich schon wieder ihren Hut verloren. Aber etwas riss ihn einfach von den Beinen. So hatte er sich den Einschlag einer Kugel nun wirklich nicht vorgestellt. Das war eigentlich harmlos. Er fühlte keinen Schmerz. Bekanntlich kam die Taubheit mit dem einsetzenden Tod. Wenn es danach ginge, hatte es ihn wohl überall erwischt. Er spürte nämlich absolut nichts mehr. Nicht mehr und nicht weniger als vor dem Einschlag.

„Wenn du Arschloch noch einmal über die Sperrmarkierungen latscht, dann jage ich dir ganz persönlich eine Ladung Schrott in den Allerwertesten, klar?“ zischte eine Stimme dicht neben seinem linken Ohr.

Nein, das war keine Kugel gewesen, die ihn von den Beinen gerissen hatte: Nö, das waren die starken Arme des Treiberführers höchstpersönlich. Der hatte sich wohl bis zu ihm vorgerobbt und ihm dann einfach die Füße weggezogen. Nun lagen sie fast Cheek-to-Cheek im Gras und bewunderten den aufklarenden, blauen Morgenhimmel.

„Sieh bloß zu, dass du mir in die sichere Zone folgst!“ zischte er. „Und möglichst unterhalb der Grasnarbe, wenn ich bitten darf!“

Da sprach der ausgemusterte Feldwebel. Sonst gerne, aber heute war Manfred nicht mehr nach Aufmüpfigkeiten. Er kroch in Schlangenlinien um die Sicherheit spendenden Bäume herum, in die sichere Zone zurück. Ja, da waren kleine, grüne Fähnchen an den Bäumen, die markierten, bis wohin die Treiber gehen sollten. Ja, Manfred hatte die nicht gesehen. Alles seine Schuld und er gelobte feierlich Besserung. Aber welcher Blödmann hatte auch die Farbe Grün für diese Warnhinweise gewählt? Ein Jäger oder ein Feldwebel wahrscheinlich. Oder einer der beides war.

Wie auch immer, Manfred der professionelle Grünschnabel, war natürlich beim abendlich Wildbret und anschließendem Umtrunk, das Tagesthema. Warum diese Waffen- und Totmachnarren auch noch abends trinken mussten, war Manfred ein Rätsel.

Die waren doch schon alle hacke bis zur Oberkante. Für ihn wurde es jetzt auch Zeit, sich mal Einen zu genehmigen. Glücklicherweise hielt man ihn trotz seines Faux pas nicht unbedingt für einen totalen Trottel. Jedenfalls nicht alle seine Kollegen. Viele der Kameraden wiesen ihn daraufhin, es doch mit dem Frühschoppen morgen nicht wieder zu übertreiben. Die hielten ihn wohl schlicht für betrunken.

Wie zu erwarten, blieb es in der geselligen Runde nicht bei einem Jägermeister. Manfred fühlte nach kurzer Zeit, dass er sein Wohlfühlquantum zu verlassen drohte. Die waren hier alle außerordentlich trinkfest. Seine Blase macht jetzt schon schlapp und er stieg die enge Kellertreppe hinunter zu den Toiletten.

Die feine Gesellschaft feierte in einem eigenen Raum, aber vor dem Pissoir hier unten waren wohl endlich mal alle gleich. Oder auch nicht.

Anstelle des gewöhnlichen Pissoirs hatte der Gatte von Claudia, so hatte Manfred beschlossen die Schönheit zu nennen, einen gut ausgebauten Blondschopf vor sich. Die Frau hockte zwischen zwei Pissoirs und Manfred vermutete, dass der Dicke sich da nicht gerade seiner Notdurft entledigte. Zumindest nicht dieser Art von Notdurft.

Manfred stand etwas unschlüssig an der Tür herum. Noch eine Minute, dann wurde es peinlich. Der Alkohol half ihm bei seiner Entscheidung. Er ließ ein Pissoir zu dem Dicken und seiner hockenden Gespielin frei und starrte stur in den Abfluss seines Beckens. Etwas anderes wäre jetzt auch gar nicht in Frage gekommen, weil die vier Biere auf seine Blase drückten, so dass es keine Minute mehr Aufschub geduldet hätte.

Der Dicke grunzte mehrfach zufrieden.

Manfred betätigte sie Spüle.

„Du geile kleine Hure!“ rief der Dicke plötzlich und stöhnte betont endgültig, so als ob die Wasserspülung bei ihm eine Gefühlswallung ausgelöst hätte. Vielleicht war es aber auch nur die Tatsache, dass der letzte Zaungast seinen Platz verlassen hatte.

Auf das Händewaschen könnte Manfred unter diesen besonderen Umständen wohl ausnahmsweise verzichten.

Er verließ derart fluchtartig den Raum, dass er noch dabei war, seinen Hosenstall zu schließen, als er um die Ecke in den Kellerflur bog. Daher hatte er auch keine Hand frei, um die Ohrfeige abzuwehren.

„Du altes Schwein!“ schrie Claudia ihn an.

Manfred zuckte zurück, seine Wange brannte und er hatte ihren Fingernagel fast ins Auge bekommen. Was zum Teufel hatte er ...

„Uups! Das tut mir leid“, sagte Claudia. „Ich dachte du wärest mein ...“

„Darf ich mal ...“ In diesem schob sich der dicke Gatte an Manfred vorbei. Manfred stand ihm eindeutig im Weg, daher hatte der Mann seine Frau wohl auch gar nicht gesehen.

„Du altes ...!“

„Na, komm, nun lass mal.“ Der Dicke hatte ihre Hand geschickt abgewehrt und schob seine Frau unsanft beiseite. „Mach hier nicht wieder so ein Theater!“

Jetzt konnte Manfred auch die Blondine sehen, so richtig. Nicht nur die Haare, wie vorhin, die sich sanft vor und zurück bewegten.

Sie war vielleicht 24 oder zwei Jahre älter. Vielleicht auch 6 Jahr jünger. Ihre Kleidung ließ vermuten, dass sie gewöhnlich die Gäste eher oben im Schankraum bediente.

„Ich muss wieder hoch!“ erklärte die Blondine, ohne besondere Regung und ging grußlos an der eifersüchtigen Gattin vorbei.

„Du altes Schwein!“ hob Claudia erneut an, aber diesmal ohne auszuholen. Es klang eher verzweifelt, so, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde.

Manfred konnte sich von dieser Szene nicht losreißen, obwohl ihm klar war, dass er hier eigentlich nichts mehr verloren hatte.

„Mensch, ich bin Jäger! Da müssen wir doch nicht jedes Mal drüber reden“, sagte der Dicke ruhig. „Ich geh jetzt hoch. Die anderen warten sicher schon auf mich!“

„Erzählst du ihnen von deinem neuesten Abschuss, ja? Prahlst wieder mit der elegant erlegten Sau!“

„Ich bin doch nur gleichgezogen“, erklärte der Dicke. „Der Keller hatte die doch schon vor einer halben Stunde vor dem Rohr!“

„Der Keller! Und der Siebert kommt gleich auch noch dran, ja! Warum gehe ich nur immer mit, auf diese blöden Jagden. Ihr alten Böcke seid doch alle gleich!“

Die Dicke winkte ab. „Nun beruhig dich. Ist ja nix passiert.“


Als Manfred sich mit der schönen Claudia allein im Flur wiederfand, dachte er, sie würde sich gleich bei ihm ausweinen.

Aber das tat sie nicht.

„Tut mir leid, dass es dich erwischt hat, aber so ein Treiber muss auch mal was einstecken können, oder?“

Als Weichei wollte Manfred nun auch nicht dastehen und obwohl seine Wange immer noch heftig brannte. Also sagte er: „Halb so schlimm.“

Claudia schien ihn einfach hier stehen lassen zu wollen. Sie hatte sich umgedreht und war den Flur lang gegangen. Doch dann drehte sie noch einmal um.

„Wollen Sie mich nach oben begleiten und mir ein wenig Trost spenden?“

Keine Frage. Das wollte er.

Was Claudia unter Trost verstand, war für Manfred der beste Sex, den er je gehabt hatte. Nicht nur, weil Claudia so attraktiv, so eine ganz andere Klasse von Frau war, als die, die gewöhnlich näher kennenlernte, sondern weil sie sich so unersättlich nahm, wonach sie sich offenbar sehnte. Sie hatte eine volle Flasche Whiskey auf den Nachtisch gestellt, die im Verlauf der Nacht genauso geleert wurde, wie Manfreds Hoden und sein Hirn.

Als er Claudias Zimmer verließ, hätte er nicht auf Anhieb sagen können, wie er hieß und schon gar nicht warum und wo er hier eigentlich war.


Wenn man mal von dem Restalkohol und der Tatsache, dass er in dieser Nacht kaum Schlaf gefunden hatte, absah, fühlte Manfred sich am nächsten Morgen prächtig.

Er stand mit den anderen Treiben an der Scheune und wartete auf den Kleintransporter, der sie abholen würde. Dezent sah er hinüber zu den Jägern, suchte nach Claudia, konnte sie aber nirgends entdecken. Vermutlich hatte sie es nach dieser unglaublichen Nacht nicht rechtzeitig aus dem Bett geschafft. Manfred klopfte sich in Gedanken selbst auf die Schulter.


Heute wurde ein anderes Revier angefahren. Aber die Regeln waren dieselben und Manfred hatte es jetzt wohl raus. Er schlug sich mit den Treiben durchs Dickicht und achte auf die Markierungen für die sichere Zone und ignorierte den Schmerz in seinem Schädel und zwischen seinen Beinen. Alles war so easy, wenn man auf der Jagd war. Die Treiber standen da, schlugen manchmal unmotiviert gegen einen Baum und warteten auf die ersten Schüsse.

Für einen erfahrenen Treiber wie Manfred war das jetzt eher öde. Lange sah er sich das nicht mit an. Da er wieder ganz außen an der Treiberkette positioniert war, beschloss er um die Schießzone herum, zu den Jägern vorzustoßen. Vielleicht hatte er Glück und fand Claudia unter ihnen. Und wer weiß, vielleicht...

Tatsächlich war er schon wieder zu weit gelaufen, aber diesmal Gott sei Dank im sicheren Bereich. Und Claudia fand er auch. Sie stand gar nicht weit weg von ihm, an einen Baum gelehnt und hatte das Gewehr im Anschlag. Leise schlich Manfred sich heran. Er wollte sie nicht stören oder ihr Wild vertreiben.

Aber da war kein Wild vor Claudias Flinte. Da war nur ihr Mann, der keine Ladehemmung an seinem Kolben zu haben schien. Denn unter ihm, im taugetränkten Gras, lag eine Jägersfrau und ließ sich den Unterschied von klein- und großkalibrigen Waffen zeigen.

Das war wirklich ein perverser alter Drecksack. Manfred erkannte sofort, dass Claudia auf die beiden zielte. Vielleicht hatte die Nacht mit ihm sie endlich zur Vernunft gebracht und sie wollte sich von diesem Schwein trennen. Und zwar endgültig! Aber doch nicht so! Sie konnte ihn doch nicht einfach erschießen!

Ohne Vorwarnung stürzte sich Manfred auf Claudia und riss ihr das Gewehr aus der Hand. Claudia war völlig überrascht, sie hatte Manfred gar nicht kommen gehört.

„Was ...?“
Der Schuss krachte noch bevor Manfred die Waffe richtig unter Kontrolle hatte. Gerade noch konnte er Claudia die Waffe entwinden, bevor sie nachladen konnte.

Sein Puls war rasend und atmete keuchend, als er Claudia anschrie: „Das ist doch Mord!“

Aber es war kein Mord. Ein Blick zu dem dicken Gatten hinüber zeigte Manfred, dass der Mann wohlauf war. Nur seine Gespielin lag immer noch erschöpft am Boden. Fassungslos ging Manfred auf die Beiden zu.

„Ja spinnst denn du?“ schrie ihn der Dicke an.

Von hier aus konnte Manfred, das Loch in der Schläfe der halbnackten Jägersfrau sehen.

Claudia war ebenfalls herangekommen.

„Ich hatte gerade auf den Sechsender angelegt, da hat mich dieser Kerl von hinten angefallen!“ behauptete Claudia.

„Sie hat versucht Sie umzubringen!“ verteidigte sich Manfred.

„Ist alles in Ordnung mit dir, mein Schatz?“

„Ja, ja. Ist nur der Schreck!“

Inzwischen hatte der Dicke seine eigene Waffe aufgehoben und auf Manfred gerichtet.

„Lass das Gewehr fallen!“ befahl er. „Claudia komm hier rüber!“

Claudia trat einen Schritt beiseite und stellte sich dann hinter ihren Mann.

„Was die heute für ein Volk als Treiber einstellen, das ist unglaublich“, regte sich der Dicke auf. „Schatz, ruf die Polizei!“

Claudia hatte das Telefon schon am Ohr.

„Sie verstehen das nicht ...“, wollte Manfred einwenden.

„Doch ich verstehe das sehr gut“, unterbrach ihn der Dicke. „Durch ihre Schuld ist jetzt ein Mensch zu Schaden gekommen. Die Treiber haben hier nichts zu suchen.“

„Aber Ihre Frau wollte Sie umbringen!“

„So ein Blödsinn. Sie haben ihr in die Flinte gegriffen und dabei einen Schuss ausgelöst. So war es doch, Schatz, oder?“

„Ganz genau“, bestätigte die Gattin. „Ich weiß nicht, was der von mir wollte und warum er nicht bei den anderen Treibern geblieben ist. Der war gestern schon so komisch.“

„Mach dir keine Sorgen. Das kann die Polizei klären. Ich hab’s ja auch genau so gesehen.“

Manfred war verzweifelt. Warum gab Claudia ihrem Mann Recht? Er war verwirrt, aber dann wurde ihm langsam klar, diese Frau keinesfalls ins Gefängnis gehen würde. Und schon gar nicht für ihn! Selbst wenn er gar nichts getan hatte, käme er aus dieser Nummer wohl nicht mehr raus.

„Damit dürfte wohl nicht nur ihre Karriere als Treiber zu Ende sein!“ grunzte der Dicke zufrieden und in der Ferne waren die ersten Sirenen zu hören.

Das war’s. Sie würden ihn allemal wegen fahrlässiger Tötung drankriegen.

Manfred ignorierte die Drohgebärden des Dicken und nahm das Gewehr wieder auf. Er hielt sich den Lauf unters Kinn und drückte ab.

„Erst mal durchladen!“ erklärte der Dicke, während er ihm das Gewehr aus der Hand nahm.

Der Verschluss klickte und der Dicke hatte mit geübtem Griff eine neue Patrone in den Lauf befördert. Dann drückte er ihm die Waffe wieder in die Hand.

„Ist wahrscheinlich besser so!“

Manfred zögert. Erst, als er einen Polizisten hinter den Bäumen auftauchen sah, warf er das Gewehr wieder zu Boden, bevor es hier doch noch einen weiteren Toten geben würde.

Die Frau des Jägers (113) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.