Das gejagte Bockshorn

Dieser neue Fiat 500 lag viel besser in den Kurven, als der, den er damals nach dem Abitur geschenkt bekommen hatte und der nach einem Vierteljahr bereits keine Funken mehr sprühte. Die Elektrik. Bei einem 500er eher selten, eigentlich typisch für einen Mini.

Trotzdem hatte Jochen ein ganz schlechtes Gefühl dabei, als die Leihwagenfirma am Hannoveraner Flughafen ihm den neuen 500er übergab. Eigentlich sollte es ein Audi A4 sein, aber die waren aus. Eigentlich war dank der CBit alles aus. Außer diesem Luxusschlitten für Minderbetuchte. Letztlich hatte er keine Wahl. CBit hin oder her, er musste seine Kunden in Höxter und Detmold besuchen.

Nun, bis in den Solling machte der kleine Italiener einen erstaunlich guten Eindruck. Doch das kannte er schon, von dem Alten, für den er, wegen seiner Rallystreifen, damals mehr als sein Konfirmationsgeld ausgegeben hatte, obwohl ein solider Ford Taunus für wesentlich weniger zu haben war. Alle hatten ihm abgeraten, aber er war stur geblieben. Er war sein ganzes Leben lang stur geblieben. Hatte aber zu seinem eigenen Schutz etliche fundierte Vorurteile entwickelt. Eines davon betraf die Firma Fiat.

*

Und auf eines kann man sich bei Vorurteilen verlassen. Dass sie autogenerativen, geradezu prophetischen Charakter hatten.

Daher war Jochen jetzt nicht wie vom Blitz gerührt, als das Navigationsgerät in der Nähe der Extern Steine behauptete, dass er seinen Reisepass bereit halten sollte, da er an der Grenze der Türkei die europäische Union verlassen würde. Der Grenzübergang war übrigens noch 600 Meter entfernt und dann rechts.

Von Detmold war auf dem Display keine Spur mehr. Dafür hatte das Interface spontan in seine chinesische Muttersprache gewechselt. Nun war Jochen nicht zum Chefstrategen bei Union Clever geworden, weil er sich von so einem asiatischen Knallkörper einfach so ins Bockshorn jagen ließ. Er schaltete das Navi einfach ab und richtete sich fortan nach den Ortsschildern. Das zumindest war der Plan.

Der Plan scheiterte allerdings an dem lächerlichen Detail, dass mit dem Navi auch das Autolicht ausging. Nun hatte er zwei Jahre lang Kybernetik studierte und ahnte deshalb sofort, dass das erneute Einschalten des Navigationsgerätes bestenfalls die Beleuchtung des Fahrgastraumes aktivieren und vermutlich das Kurvenassistenzlicht auf Dauerlinks einschalten würde. Er vermutete, dass er das Fernlicht am wahrscheinlichsten mit dem Aktivieren der Klimaanlage wieder zum Leuchten bringen könnte.

Sein Verdacht war nicht ganz unbegründet, aber es schaltete sich statt des Fernlichtes nur der Warnblinker ein. Was aber auch einen nachvollziehbaren Sinn hatte, wenn man bedachte, dass sich, um das strategische Gleichgewicht wieder herzustellen, in gleichen Moment auch die Zündung abschaltete. In diesem Sinne hatte Jochen alles richtig gemacht und rollte an einem Zugang zu einem Forstweg aus. Perfekt.

Er hoffte jetzt nur, dass sein Handy keinerlei Sympathien für die Macken des Fiat entwickelt hatte und es ihm gelang den ADAC zu erreichen. Den ADAC oder irgendwen. Gott sei Dank war sein Handy völlig autonom von jeglichem italienischen Autobauer. Es war sogar so autonom, dass sein Beziehungsbalken kategorisch Null anzeigte.

Nun ja, das wichtige Gespräch in Holzminden hatte er ja hinter sich, der Termin in Detmold war für das neue Pizza-Geschmackserlebnis Zauber der Südsee von eher untergeordneter Natur. Er hatte seinerzeit so oder so vorgeschlagen, die Gewürze doch auf Gomera direkt einzukaufen oder besser noch gleich selbst anzubauen.

Eines konnte man Jochen nicht nachsagen. Dass Schwierigkeiten ihn von Erfolgen abhielten. Er hatte nicht drei Eliteuniversitäten erfolgreich besucht und diverse Preise und Auszeichnungen erhalten, um am Kilometerstein 17,5 zwischen Höxter und na wer weiß wo ... heulend herumzusitzen. Zugegeben ihm war irgendwie danach und er notierte in Gedanken: Elektronikgeräte aus China meiden.

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Hier in der Gegend war Jochen mal zur Schule gegangen und er wusste, wie plötzlich in diesen kleinen Talsenken Nebel aufziehen konnte, trotzdem ging er fröstelnd um den Fiat herum und schaute nach, ob die Spitze italienischer Ingenieurskunst eventuell angefangen hatte zu brennen. Nicht unwahrscheinlich, dass einer dieser durchgeknallten, gelben Perfektionisten daran gedacht hatte, dass Passagiere bei einer Panne in Nordeuropa erfrieren könnten und deshalb geistesgewärtig den Warnblinker über einen Zeitgeber mit einem Notfall Brandsatz gekoppelt hatte.

Um der potentiellen weiteren Fürsorge chinesischer Programmierer zu entgehen, entfernte sich Jochen vorsorglich von seiner italienischen Fat Man.

„Oh du schöner Westerwald“, schoss es Jochen in den Sinn, als er sich langsam durch den Nebel Richtung Höxter zurück arbeitete. Schemenhaft erkannte er in einem der Bäume am Straßenrand eine unheimliche Hexengestalt im Nebel. Die Elektronik in seinem Gehirn arbeitete auch nicht viel weniger intuitiv als die des Fiats.

„Hast du eine Panne“, zerschnitt eine warme Frauenstimme den eisigen Nebel. Der Baum entpuppte sich als echte Hexe, zumindest als Frau, die aussah, wie eine echte Hexe. Einen kurzen Moment verlor Jochen die Kontrolle und gab ein erschrecktes „Aah“ von sich. Dann musste er lachen.

Das tat ihm gut. Blitzschnell hatte er verstanden. 31. Oktober gleich Halloween. Wahrscheinlich eine Mutter auf dem Weg ... wohin um Himmels willen? Er schaute sich um. Aber außer ihm und der Hexe war hier weit und breit niemand.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte die Hexe. Und was die für eine dicke Warze auf der Plastiknase hatte.

„Nein, nein. Alles okay. Aber ich hatte tatsächlich eine Panne da hinten.“

„Und das Handy geht nicht?!“

„Nein, keine Chance“, erklärte Jochen, der froh war in dieser verlassenen Gegend eine offenbar ganz vernünftige Frau zu treffen. Wenn man mal von der Tatsache absah, dass sie ein Hexenkostüm trug und mitten im einsamsten Wald auf der Jagd nach Süßigkeiten war, oder gar ihre Kinder verloren hatte.

„Hier ist ein Funkloch“, erklärte die Hexe freundlich. „Wenn Sie wollen ... Ich wohne da hinten an der Lichtung. Da ist ein Festnetzanschluss, von dort können sie gerne telefonieren.“

Allein das Wort Festnetzanschluss hatte in dieser Einöde etwas Beruhigendes. Jochen notierte auf seiner Liste: Festnetzanschluss gleich Vertrauen.

„Ja, sehr gerne. Wissen Sie, wo wir hier sind?“ Er merkte noch im selben Moment wie bescheuert diese Frage war. Schließlich wohnte die Frau hier.

„Etwa 600 Meter nördlich von der Grenze zur Türkei“, sagte die Frau lachend.

Jochen glaubte nicht richtig zu hören. „Was bitte?“

„Hat ihr Navi das nicht angezeigt? Passiert hier dauernd. Hat irgendwas mit den Bergen zu tun. Die versuchen das schon seit 3 Jahren zu korrigieren.“

„Ja, ja. Doch schon“, sagte Jochen, der froh war einen Restgehalt an Normalität in dieser Situation zu erkennen. „Aber ich konnte das nicht wirklich glauben.“

Die Frau lachte herzlich. „Dann gehören Sie nicht zu den Menschen mit einem grenzenlosen Vertrauen in den Gott der Technik?“

„Nein. Das ganz und gar nicht.“

Die Frau war ihm irgendwie sympathisch. Lebte hier am Ende der Welt und machte sich über die moderne Technik lustig. Inzwischen war er der Hexe tief in den Waldweg gefolgt.
„Es ist nicht weit“, erklärte die Hexe. „Das kommt einem Städter nur so vor.“

Jochen war nicht zimperlich und gut zu Fuß. Außerdem vertraute er der Einheimischen. Und tatsächlich. Ganz ohne Navigationsgerät, standen sie eine viertel Stunde später vor einem Haus, das in dieser Kulisse gut als Hexenhäuschen hätte durchgehen können.

Natürlich war es nur eine alte Bauernkate, aber Jochen war längst dem Charme seiner Vorstellungen erlegen. Dazu passte dann auch das Innere des Häuschens.

Mancher hätte es vielleicht als Rumpelkammer bezeichnet, aber Jochen erkannte in dem vielen Nippes und Kleinkram ein sorgsam arrangiertes Ambiente, wo alles seinen Platz und seine Bedeutung hatte.

Auch das Festnetztelefon. Es hing im Flur an der Wand und war tot.

„Kein Problem“, winkte die Hexe ab. „Das funktioniert andauernd mal eine halbe Stunde nicht. Wir probieren es nachher noch mal. Möchten Sie einen Tee zu Aufwärmen?“

Oh ja, das wollte Jochen jetzt liebend gern. Er fühlte sich ganz wohl in diesem strukturellen Durcheinander und fing an in seiner kybernetischen Denkweise die Dinge zu kategorisieren.

Da waren Heilkräuter in der Ecke, die generell etwas mit Heilen zu tun haben schien. Auf der linken Seite des Wohnraumes waren offenbar okkulte Symbole und Gegenstände gelagert. Dann war da noch eine naturkundliche Ecke mit ausgestopften Waldbewohnern und ein Regal mit Literatur, wo aus den Buchbänden Löschblätter hervorschauten. Jochen vermutete zum Trocken von Kräutern. Es war heimelig und unheimlich zugleich. Er mochte es. Ein chinesischer Fiatcomputer würde mit Sicherheit daran verzweifeln in diesem Chaos einen Sinn zu entdecken. Aber da war ein System.

Jochen nahm dankend einen Schluck heißen Kräutertee zu sich.

Das System war: Dies war die Behausung einer Hexe. Einer echten.

In diesem Moment wurde Jochen klar, warum die Hexe ihre Halloween-Maske auch zuhause nicht abgenommen hatte. Er sah ihre freundlichen Augen, die immer größer zu werden schienen. er fühlte seine Extremitäten nicht mehr. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Und er sah, wie die Hexe zu ihm herüber gekommen war und ihm sanft die Wange streichelt. Er selbst konnte dabei nur leicht debil grinsen. Und das auch nur deshalb, weil er noch einigermaßen fröhlich gewesen war, als er einen Schluck von dem Tee genommen hatte.

Die Hexe begann ihn zu entkleiden. Das war umständlich, weil Jochen ihr nicht behilflich sein konnte, solange er sich nicht bewegen konnte. Er war schon bei vollem Bewusstsein, allerdings hatte sein Sehfeld sehr unscharfe Ränder und seine Nervenenden für die taktile Wahrnehmung meldeten permanent das Vorhandensein von Watte auf seiner Haut und sendeten ein ewiges Wohlbefinden an sein Gehirn zurück. Ganz so, als hätte er eine Pizza Südseezauber mit den Originalgewürzen zu sich genommen. Er fühlte sich weich, wohl und willig außer seinem Horn, das, wie es sich für einen Bock gehörte, siegessicher ausgehärtet schien.

Vorgestellt hatte sich die Frau nicht, die ihn gerade wie einen nassen Sack vom Sessel auf den Boden gezogen hatte und sich irgendwelche Mantras brabbelnd seine Verfielfältigungsvorräte einverleibte. Man kann nicht sagen, dass das schnell ging. Obwohl Zeit und Bewegung in unheimlicher Korrelation standen und da Jochen sich nicht bewegen konnte, sein Zeitgefühl eher dem eines Blinden, der über Farben philosophiert, entsprach.

Was Jochen erstaunte war die Tatsache, dass die Frau auf ihm zwar hässlich war, aber er sich noch nie so wohl dabei gefühlt hatte. Bereitwillig gab er dreimal maßvoll erregt seinen Samen her, um zwischen den Mantras darüber belehrt zu werden, dass die Hexe, und es war eine Hexe, es war ganz sicher und keine Maske, ihn schon seit seiner Schulzeit in Holzminden im Auge gehabt hätte. Sie hatte seine Karriere verfolgt, Palo Alto, Sorbonne und Marburg. Und sie hatte entschieden, dass er der Vater ihrer Tochter werden würde.

„Super“, dachte sich Jochen. Und wenn da jetzt irgendetwas schief ging, dann könnte er sich sein Leben lang zu Halloween vor jeder Hexe fürchten, die er auf der Straße sah.

Nachdem die Frau sich genommen hatte, wonach sie begehrte, flößte sie ihm noch einen weiteren Tee ein. Außer Schlucken, hatte er keine Option der Gegenwehr. Danach erging es ihm wie dem Fernlicht eines italienischen Autos, er wurde aus unerfindlichen Gründen abgeschaltet.

*

Das Erste, was er durch den Nebel des Erwachens sah, war das lächelnde Gesicht eines Polizisten, der an die Scheibe seines Fiat 500 klopfte. Eigentlich sollte der Gesichtsausdruck wohl ermahnend wirken, jedenfalls, wenn man dem Sinn der Ansprache folgte: „Sie können hier kein Nickerchen mitten auf der Landstraße machen“, erklärte der Polizist in deutlichen Worten.

Jochen nickte benommen.

„Das gefährdet den Verkehr“, fuhr der Polizist fort. Jochen wehte die frische Morgenluft ins Gesicht und Sekunden später fühlte er sich vollkommen fit.

Das Navi erklärte blechern: „Noch 600m und dann links auf die B239 nach Bad Meinberg.“

„Fühlen Sie sich fahrtüchtig?“ fragte der Polizist besorgt.

„Unbedingt“, antwortete Jochen, der sich schon lange nicht mehr so frisch und ausgeschlafen gefühlt hatte.

„Gut, dann fahren Sie bitte weiter.“

Jochen drehte den Zündschlüssel und der Fiat 500 sprang leise schnurrend an. Den Termin in Detmold hatte er verpasst. Er wendet und fuhr zurück Richtung Hannover. In seinem Alter sollte er sich wirklich nicht mehr so viel zumuten. Er war keine 28 mehr und das konnte irgendwann ins Auge gehen, wenn er am Steuer einfach einschlief. Gut, dass er wenigstens noch gehalten hatte.

„Willkommen in der europäischen Union“, krächzte das Navigationsgerät nach wenigen Metern Fahrt. „Danke, dass Sie dem Kartenmaterial von Hal 8.1 vertrauen.“

„Italienischer Schrott“, dachte sich Jochen und fuhr gelassen zurück zum Flughafen Hannover und dachte unterwegs über den seltsamen Traum nach, den er heute Nacht hatte. Halloween war schon irgendwie eine eigenwillige Sache.

Das gejagte Bockshorn (97) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2011. Alle Rechte vorbehalten.