Die Nacht ohne Augen

Es war verdammt heiß und trocken in Teheran. Die einzige erkennbare Nässe machte unangenehme, großflächige Flecken auf Markus’ Hemd. Eine Melkanlage in Ghom zu installieren. – Das war schon etwas anderes als diese ewigen Touren ins Allgäu. Ghom lag 250 Kilometer von Teheran entfernt. „Ab Teheran mit dem Bus“, hatte sein Chef gesagt. Sein Chef meinte allen Ernstes den örtlichen Linienbus. Das hier war aber nicht Deutschland. Fahrkarte lösen und sich bequem ans Ziel chauffieren lassen, so lief das nicht.

Wenigstens bestand bei diesem Geschaukel keine Gefahr, dass er an dem billigen Plastiksitz festklebte. Bei jedem Schlagloch hüpften vor ihm schwarz vermummte Pinguine wie eine Mini-Aola-Welle auf und ab.

Als Markus endlich die klimatisierte Lobby seines Hotels betrat, hatte er das Gefühl, das erste Umerziehungsprogramm des Ajatollahs genossen zu haben. Nach einer Dusche und mit einem neuen Hemd bewaffnet, sah die Welt schon wieder ganz anders aus. Er setzte sich in den Schatten der Terrasse und ließ sich einen eisgekühlten Gin Tonic bringen.

„Neu hier“, fragte ein mit Sommersprossen übersäter Holländer am Nebentisch. Markus nickte. Das ganze Hotel sprach deutsch. Es wimmelte nur so von deutschen Ingenieuren. Ghom rüstete auf.

„Kommen Sie ruhig rüber zu uns, wenn sie Lust haben“, sagte ein bärtiger Riese mit bayerischem Akzent.

„Das sind Joachim, Siemens-Nixdorf, Werner, Preußen-Elektra, Herr Wintjes Süddeutsche Zeitung, Karl, Zeiss-Jena, Wilhelm, irgendetwas mit Agrartechnik, großes Geheimnis und ich bin Bernd, holländische Tomatenzüchtervereinigung“, stellte der Holländer die Runde vor.

„Markus, Holsteinische Melkautomatisierung.“

Die Herren lachten. Markus setzte sich auf den einzigen freien Platz in die Sonne und genoss den bitterherben Nachgeschmack des Gin Tonic auf der Zunge.

„Schon etwas vor für den ersten Abend?“ fragte Joachim interessiert.

„Ist nicht ganz einfach hier“, fügte Herr Wintjes hinzu.

„Eigentlich …“ setzte Markus an.

„Ach was, man muss die Zeit hier genießen“, unterbrach ihn Bernd sofort.

„Gefallen Ihnen die Perserinnen nicht?“ wollte Wilhelm wissen?

„Man sieht ja kaum etwas von ihnen.“

„Stimmt, ist wie bei der Lotterie.“

„Man muss auf die Augen sehen, das sagt schon einiges.“

„Und die Finger von den verheirateten lassen, sonst …“, sagte Herr Wintjes und machte ein Zeichen mit der Hand, als wenn er sich die Kehle durchschnitt.

„Woran erkennt man verheiratete Frauen?“ fragte Markus.

„Sie tragen einen Ring, genau wie bei uns.“

„Leider gibt’s hier es keine leichten Mädchen! Ghom ist ein Ausbildungslager für Mullahs. Hier läuft alles ganz keusch und ordentlich.“

„Und wenn man mal ein Abenteuer sucht?“ fragte Markus nur Interesse halber.

„Ach, die haben hier so ihre Tricks“, erklärte Herr Wintjes und alle begannen wissend zu schmunzeln. „Sie machen eine Sháb Bedune Tscheshm.“

„Was ist das denn?“ wollte Markus neugierig wissen.

„Die Nacht ohne Augen“, erklärte Bernd. „Die heiraten hier zwar jungfräulich, aber für die Mädchen gilt, wen sie nicht gesehen haben, den hat es nicht gegeben.“

„Es gibt da einen Ort mákane namári, Ort der Unsichtbaren. Eine kleine alte Katakombe unter der Stadt. Da drinnen sieht man die Hand vor Augen nicht.“

„Und wie kriegt man das Mädchen da hinein?“

„Ganz einfach“, antwortete Wintjes. „Wenn Ihnen ein unverheiratetes Mädchen gefällt, sagen sie zu ihr sháb bedune tscheshm, dann geben sie ihr unauffällig ein rotes Tuch in die Hand und sagen: ‘Ba madárbozorge to’.“

„Ba madabozor too?“

„Nein, nein, ba madárbozorge to!“, wiederholte Bernd. „Das müssen Sie sich unbedingt merken.“

„Ba madárborzoge to.“

„Fast! Na es wird grad reichen.“

„Und dann geht die mit mir in die Katakombe?“

„Das nicht. Aber sie taucht am nächsten Tag am selben Stand auf. Wenn sie ihnen dann ‘Mákane namári’ sagt, hat sie Interesse. Sie gibt ihnen das Tuch zurück und die Anzahl der Knoten steht für die Uhrzeit des Treffens.“

„Das ist ja gar nicht kompliziert.“

„Ist die einzige Möglichkeit, die es in diesem konservativen Nest hier gibt.“

„Sie werden sich dran gewöhnen“, sagte der Joachim. „Wir sind spät dran. Wollen wir los?“

Markus waren der Gin und die Hitze in den Kopf gestiegen. „Wohin?“

„Auf den Markt! Wenn Sie mitwollen, bitte!“

„Was aufreißen und Tücher einsammeln!“ kicherte Karl.

Markus fühlte sich matt aber unternehmungslustig.

Die sieben Ingenieure in ihren properen, kragengestärkten Hemden wühlten sich durch die träge Masse in den Gassen zwischen den Ständen. Markus hatte solche Mengen an frischen Gewürzen, Obst und Nüssen noch nicht gesehen. Alles fremdartige Formen und Farben. Er griff sich eine gelbe, verrunzelte Frucht.

„Bloß nicht essen“, rief Bernd. „Das gibt wochenlang die Scheißerei. Auch nicht das Fleisch.“

Überall zwischen den Ständen waren Kohlengrille, auf denen seltsam geformte Fleischspieße brieten und die Luft mit fetthaltigem Rauch erfüllten.

Dann sah Markus, woran er eigentlich gar nicht gedacht hatte. Zumindest nicht hatte denken wollen. Ein paar rohrzuckerbraune, glänzende Augen starrten ihn aus all dem Schwarz an. Das Mädchen schien ihm viel zu jung zu sein. Vielleicht 15 oder 14. Unauffällig sah er auf ihre Hand. Kein Ring. Schon hatte sie sich umgedreht und machte es ihm ziemlich schwer, sie im Auge zu behalten. Aber er fand sie wieder. Sie stand unmittelbar neben einem Stand mit Tüchern. Markus glaubte nicht an Gott, aber vielleicht wenigstens an seine Zeichen. Er beeilte sich, an ihren Stand zu kommen. Diese Augen starrten ihn unverhohlen an. Der Blick ging Markus durch sein Gehirn, das Rückenmark hinunter, direkt in seine Hose.

Ohne weiter nachzudenken, griff er sich ein rotes Tuch und drückte es ihr reichlich plump in die Hand. „Sháb bedune tscheshm.“ Das hatte er sich gerade noch merken können. Das Mädchen schaute ihn irritiert an.

„Ba madárbozorge to“, flüsterte es hilfreich hinter ihm.

„Ba madárbozorge to“, wiederholte Markus laut und hatte damit ungeahnten Erfolg. Erst schien das Mädchen heftig zu erröten. Sie begann zu lächeln, lachte sogar beinahe und schien sich wirklich zu freuen. Dann verschwand sie immer noch fröhlich erregt in der Menge.

„Gut gemacht“, rief Bernd, der die ganze Zeit über hinter ihm gestanden hatte.

Das, womit Ghom der europäischen Milchquote Konkurrenz machen wollte, war eine Baracke mit 15 Milchkühen, die so abgemagert daher kamen, dass allein schon der Strom, um die Milchpumpe auch nur anzufahren, dafür zu schade war. Hier waren geübte Hände gefragt. Und das sagte Markus dem Bauern auch. Der Kerl wollte aber partout eine Hightech-Melkmaschine. Und feilschen wollte er auch noch. Markus war überfordert. Die ganze Zeit über dachte er nur sein bevorstehendes Rendezvous. Er telefoniert mit seinem Chef, dann setzte er sich auf die Hotelterrasse und trank Gin Tonic, während er abwartete.

Das Mädchen hätte er nicht wiedergefunden. Erst als sie ihn unauffällig am Arm zupfte, erkannte er sie. Unauffällig gab sie ihm das verknotete Tuch wieder.

„Mákane namári“, flüsterte sie und war sofort wieder in der Menge der schwarzen Kapuzen untergetaucht.

Markus löste die Knoten und zählte sie. Neun Uhr, wenn er das richtig deutete. Das war in zwei Stunden. Markus beeilte sich, wieder ins Hotel zu kommen. Die Gruppe saß an ihrem gewohnten Tisch.
„Das hat ja prima geklappt“, rief Markus ohne jede Begrüßung. „Aber wie kommt man in diese Katakombe? Kann mir das einer von euch sagen?“

„Dafür, dass er eigentlich … ist er ganz flott bei der Sache“, unkte Herr Wintjes.

„Ja, diese Araberinnen!“

„Asiatinnen, mein Lieber“, korrigierte Wintjes Joachim. „Die Perser fühlen sich eher als Asiaten. Araber hören sie gar nicht gerne.“

„Theoretisch sehr interessant, aber könnte mir jetzt einer der Herren …?“

„Keine Panik, ich bringe Sie hin“, erklärte sich Bernd bereit. „Wann müssen wir denn da sein?“

„Um 9 Uhr.“

„Na, dann haben wir ja noch ein paar Drinks vor uns.“

„Du hältst dich links, geh einfach immer an der Wand lang. Dann kommt irgendwann ein riesiges Gewölbe, da bist du dann auf dich allein gestellt. Aber ich bin sicher, ihr beide werdet euch dort finden.“
„Wartest du hier auf mich? Ich finde ja niemals allein zurück.“

„Wenn es nicht allzu lange dauert“, sagte Bernd. „Sonst frag einfach nach dem Hotel, die sind sehr höflich hier und bringen dich bis vor die Tür, wenn’s sein muss.“

Markus betrat den Eingang zur Katakombe. Es war wirklich verdammt dunkel hier. Er tastete sich wie beschrieben die Wand lang und schon nach zehn, fünfzehn Metern fand er das besagte Gewölbe.
Er schicke ein vorsichtiges „Hallo!“ in die Finsternis, das dumpf von ihr verschluckt wurde. Kurze Zeit später fühlte er eine Hand auf der seinen. Sein Gegenüber sagte nichts. Die Hand tastete nur seinen Oberkörper ab und blieb dann an seinem Hosenbund stecken. Das Mädchen schien ungeübt, was das Öffnen von Reisverschlüssen anging. Es dauerte etwas, aber dann war es geschafft und ein fester Griff umschlang sein Glied. Seine Erregung verschlug ihm den Atem. Markus konnte die Frau tatsächlich nicht sehen. Er wusste nicht einmal, wo er eigentlich hin fassen sollte. Alles hier war kalt und feucht und sein Glied vergaß vor Anspannung sich aufzurichten. So ungeschickt das Mädel mit dem Reißverschluss gewesen war, so geübt war sie in dem, was ihr Mund gerade mit seinem Schwanz anstellte. Ihre Lippen umschlossen ihn so fest, weich und warm, wie er es noch nicht erlebt hatte. Das Mädchen hatte unglaublich kräftige Lippen und trotz allen Saugens und Schmatzens kamen ihre Zähne nicht ein einziges Mal an die empfindlicheren Teile seines inzwischen aufgerichteten Zeugungsorgans. Es war fast so, als wenn dort außer Lippen und Zunge des Mädchens rein gar nichts wäre.

Endlich wusste Markus auch wohin mit seinen Händen. Das Mädchen trug tatsächlich auch jetzt noch diese alberne Kutte. Bei der Vorstellung, gerade mit einem unsichtbaren Pinguin oral zu verkehren, wusste Markus nicht, ob er kommen oder sich totlachen sollte.

Das Mädchen zog an seinem Ärmel. Es deutete ihm an sich hinzulegen. Der Boden war sandig, kühl und feucht. Bei dieser Hitze eher willkommen. Das Mädchen drückte ihn mit Bestimmtheit auf dem Rücken, dann platzierte sie sich auf ihm und begann mit ihren Hüften heftig auf seiner Querachse zu kreiseln.

„Tschi mischod áge esslah mikardi!“ rief sie zweimal schnell hintereinander und kicherte dabei gurgelnd. Markus hatte ihre Stimme noch nie gehört. Sie klang irgendwie zu schrill für seinen Geschmack. Seine Hände griffen nach ihren Schenkeln. Die Haut fühlte sich lederner an, als er es von seiner Frau gewohnt war. Für so ein junges Mädchen hatte die Kleine auch schon ziemlich schlaffe Oberschenkel. Wahrscheinlich machte das die viele Sonne hier. Markus blieb kaum Zeit, darüber nachzudenken. Das Mädchen vollführte eine wahren Freundtanz auf ihm und rief noch einmal: „Tschi mischod áge esslah mikardi!“

Sie atmete so schwer, dass Markus sicher war, dass sie bereits gekommen war. Ihre Bewegungen wurden langsamer und Markus fühlte seinen Schwanz kaum noch, sein Bauch und seine Beine rund um die Schambehaarung brannten, als wären sie mit Schleifpapier abgerieben worden. Ohne etwas zu sagen stand das Mädchen kompliziert und schwerfällig auf. Dass er selbst einen Orgasmus gehabt haben musste, merkte er erst, als ihm warmes Sperma auf den Bauch tropfte. Markus blieb einige Sekunden liegen und horchte. Nichts! Sie war weg. Einfach gegangen. Mákane Namári, der Ort der Unsichtbaren. Markus war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Irgendwie fühlte er sich mit seinem geöffneten Hosenstall und seinem feuchten Bauch allein gelassen.
„Wie war’s“, wollte Bernd, der doch auf ihn gewartet hatte, wissen.

„Interessant.“

„Interessant?“

„Ist nicht unbedingt das Richtige für mich.“

„Anders läuft hier nun mal nichts.“

„Die Frauen sind auch nicht wirklich mein Geschmack, fürchte ich. Schöne Augen, aber sonst …“

„Na, na. So viel besser sind unsere Frauen ja wohl auch nicht.“

„Zugegeben, mit dem Mund können sie umgehen. Da macht ihnen keine unserer Frauen irgendetwas vor!“ gestand ihm Markus zu.

Über diesen Satz wollte sich Bernd ausschütten vor Lachen. Er sagte zwar nicht warum, aber er hörte bis zum Hotel nicht mehr auf zu lachen.

Inzwischen hatte Markus Hunger bekommen. Er setzte sich ins Restaurant des Hotels. Sein Tischnachbar, ein älterer, grauhaariger Brückenkonstrukteur, starrte auf das rote Tuch, das Markus aus unerfindlichen Gründen bei sich hatte.

„Sháb bedune tscheshm?“

Markus nickte mit gewissem Stolz. Der Alte schüttelte sanft den Kopf. „Sie können es nicht lassen. Bei jedem Neuankömmling das gleiche.“

Markus wurde aufmerksam. „Was meinen Sie?“

„Im Prinzip nichts. Wenn Sie was für alte Frauen übrig haben.“

„Wieso? Das Mädchen war höchstens fünfzehn“, versicherte Markus.

„Wenn die nicht mindestens über fünfzig war, dann hätten ihre Brüder ihnen die Eier abgeschnitten und sie über dem offenen Feuer geröstet.“

„Na, dann hab ich wohl Glück gehabt, was?“

„Was haben Sie dem Mädchen denn genau gesagt?“

„Sháb Bedune Tscheshm“, sagte Markus.

„Und?“ fuhr der Ingenieur fort.

„Ba Madárborzorge to.“

„Sehen Sie! Dachte ich es mir doch.“
„Was?“ fragte Markus irritiert.

„Was der zweite Teil heißt, haben die Burschen ihnen wohl verschwiegen.“

„Was denn?“ fragte Markus höchst alarmiert.

„‘Mit deiner Großmutter’, heißt das“, sagte der Alte und löffelte gelassen weiter an seiner Suppe. „Und seien Sie froh. Hätten Sie das nicht dazu gesagt, hätten sie das Mädchen tödlich beleidigt und zehn Minuten später ihre Familie auf dem Hals.“

Markus schluckte. „Und tschi mischd ág esslah ikardi, was könnte das bedeuten. Das hat das Mädchen … äh die Frau, immer wieder gerufen.“

„Sie meinen wahrscheinlich ‘tschi mischod áge esslah mikardi’.“ Der Brückenbauer lachte auf. „Das heißt, du solltest dich mal rasieren. Die Perser finden Schambehaarung anstößig. Aber kein Grund zur Sorge, die alte Frau hat sicher trotzdem ihren Spaß gehabt.

„Wahrscheinlich“, gab Markus geknickt zu und konzentrierte sich peinlich berührt auf sein Essen. Eigentlich hatte er keinen Grund zu Klage, dachte er sich, schließlich wusste er nicht, was auf ihn zukam und überhaupt, was man nicht gesehen hatte, zählte auch nicht.

Sein Chef hatte ihm noch am gleichen Abend per Fax mitgeteilt, dass das Geschäft geplatzt sei und er unverzüglich zurückkehren sollte. Als Markus am nächsten Tag mit seinem Koffer an der Terrasse vorbei Richtung Bus stapfte, sah er einen jungen Schweizer, wahrscheinlich ein Bänker, am Tisch der Gruppe um Bernd und Herrn Wintjes herum in der Sonne sitzen. Im Vorbeigehen hörte er, wie Bernd sagte: „Sháb bedune tscheshm. Das ist eigentlich die einzige Möglichkeit, hier ein bisschen Spaß zu haben.“

Markus grinste nur zu dem Tisch hinüber und die anderen nickten ihm freundlich zu. Nein, er klärte den jungdynamischen Schweizer nicht auf. Markus war ja kein Spielverderber.

Die Nacht ohne Augen (36) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1998. Alle Rechte vorbehalten.