Rollenzwang

S.E. Jones, S.E. stand für Samuel Ernest, war dreiundvierzig Jahre alt und erfüllte alle Anforderungen, die das Leben an einen Mann in seinem Alter und seiner Position stellte. Er hatte einen Beruf, der ihn vollkommen ausfüllte, er leitete eine Abteilung mit siebenundsechzig Mitarbeitern, und er machte seine Sache wirklich gut. Bei den meisten seiner Untergebenen war er beliebt, bei wenigen geleidet und nur in Ausnahmen verhasst. Er übte seinen Beruf aus, wie es nötig war, mit Umsicht und Härte, aber auch mit einem freundlichen, aufmunternden Wort hier und dort, wenn es angebracht war.

In den Blicken der weiblichen Mitarbeiter sah er zumeist grenzenlose Bewunderung leuchten und in denen der männlichen meist Neid, doch er bewies ihnen allen täglich aufs Neue, dass er seine Stellung zu Recht inne hatte und gab ihnen täglich ein gutes Beispiel, was die Arbeitsmoral und die Einsatzfreudigkeit betraf. Unermüdlich löste er die Probleme, die von allen Seiten an ihn heran getragen wurden, und der Erfolg gab ihm so gut wie immer Recht.

Auch sein Privatleben war scheinbar in Ordnung. Er war seit vierundzwanzig Jahren glücklich verheiratet, hatte zwei Kinder, die das Haus verlassen hatten. Alles war wie es hätte sein sollen – alles, außer ihm selbst. Das heißt, er war körperlich gesund, man kann sagen, recht fit für sein Alter, aber sein Kopf! Nein, er war nicht hässlich, aber etwas war ganz entschieden nicht in Ordnung mit ihm. Es war etwas mit seinem Kopf und keiner außer ihm wusste es.

Seit Jahren quälten ihn die gleichen Gedanken – immer wieder kreisten sie in seinem Kopf. Hartnäckig, in jeder Pause, in jeder Phase des Leerlaufes, wenn er nicht gerade Anordnungen traf oder mit anderen Arbeiten beschäftigt war, verschafften sie sich Zutritt zu seinem Bewusstsein und ließen ihn dann nicht wieder los. Sie bissen sich fest, verfolgten ihn bis in die Arbeit hinein und nagten die ganze Zeit über an seinem Kleinhirn und lösten sich nur langsam wieder auf. Bis zur nächsten Pause. Es stellten sich Fragen, die er nie beantworten konnte, und es waren immer dieselben Fragen. Sie betrafen ihn. Ihn selbst, was er tat, und wer er war. Deshalb nannte er sie Selbstzweifel. Er sah sich dann, wie im Spiegel mit seinem Chef sprechen und freundlich und untergeben lächeln. Er sah sich wenig später mit einer schönen Frau charmant oder verführerisch lächeln. Er sah sich mit einem Untergebenen sarkastisch lächeln. Er sah sich mit einem entlassenen Mitarbeiter mitleidsvoll lächeln. Er sah einen Bewerber hoffnungsvoll lächeln. Er sah seinen Chef herablassend lächeln. Er sah seine Sekretärin verständnisvoll lächeln. Er sah sich mit seinen Kindern wohlwollend lächeln. Er sah sich mit seiner Frau liebevoll lächeln. Er sah sich lächeln, lächeln und immer nur lächeln. Er lächelte zu jeder Gelegenheit und zu jeder Gelegenheit hatte er das passende Lächeln. Und immer wieder kam dann diese Frage: „Warum lächelst du eigentlich?“

Und immer antwortete er sich lächelnd, dass man mit ein wenig Freundlichkeit doch gleich viel weiter kommt. Aber er wusste auch jedes Mal, dass das keine Antwort war. Er fand wieder nur sein Lächeln. Und es verlangte ihn danach, mit beiden Fäusten hinein zu schlagen, in dieses dumme und alberne Lächeln. Mit langen Fingernägeln wollte er es herunterreißen, um zu sehen, was dahinter war. Zu sehen, wie das Lächeln zerfloss, wie die Maske aufquoll und zusammensank und dahinter, – dahinter womöglich nichts war? Nichts, einfach nichts, doch das konnte und wollte er sich nicht vorstellen.

Er hätte gerne mit jemandem darüber gesprochen, aber er wusste einfach nicht mit wem. Seine Frau stand außerhalb jeder Diskussion. Sie kam aus einem wohlhabenden Elternhaus und hätte das sicherlich nicht verstanden, vielmehr hätte sie sich geweigert, ihn überhaupt anzuhören. Sie war so erzogen. Sie sprachen über sehr wenige Dinge miteinander, sonst war aber alles in ihrer Ehe sehr harmonisch, und sie erfüllte ihren Aufgabenbereich auch sehr gewissenhaft. Er hatte keinen Grund zur Klage.

Nur früher, da hatten sie manchmal versucht, sich zu unterhalten, – miteinander. Hatten es aber bald wieder sein gelassen, nachdem sie bemerkt hatten, wie schwierig sich ihr Verhältnis sonst gestalten würde. Auch an einen Psychologen hatte er bereits gedacht, dem hätte er es wenigstens erzählen können. Aber das wäre sicherlich schnell bekannt geworden und hätte seine ganze Stellung, die er sich so mühevoll erkämpft hatte, gefährdet. Also ließ er es sein und kämpfte weiterhin allein mit seinen Selbstzweifeln.

Seit einigen Jahren wusste er jedoch, wie er den Selbstzweifel, wenigstens für kurze Zeit, völlig aus seinem Kopf verbannen konnte. Die Lösung schien ganz einfach. Eines Abends, nach einem Geschäftsessen, waren sie alle reichlich angetrunken in einen dieser Nachtclubs gegangen, in denen außer den üblichen Shows, in einem Nebenraum, auch Filme gezeigt wurden. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Filmszene, die er dort sah. Ein dicker nackter Mann lag gefesselt auf einer Holzplatte. Der Raum war völlig dunkel und von der zweiten Person war nur ein Bein zu sehen, das einen spitzen Absatz schwarzer Lackstiefel in die Haut des Oberschenkels bohrte und ein Arm, der immer wieder mit einer Peitsche auf den Rücken des liegenden Mannes niedersauste und das lächelnde Fleisch in Streifen schnitt.

Ansonsten konnte er sich an nichts mehr erinnern, aber das, was er dort gesehen hatte, ließ ihn von nun an nicht wieder los.

Danach war es leicht gewesen seinen Selbstzweifel zu bekämpfen. Zuerst war er herumgelaufen und hatte von allerlei zwielichtigen und käuflichen Personen solche Dienste entgegen genommen. Auf Dauer jedoch hatte ihn das nicht befriedigt. Dann, eines Tages, hatte er endlich gefunden, was er wirklich suchte. Er wusste nicht mehr, woher er die Adresse hatte, es war eine Privatadresse gewesen, und sie entsprach seinen Vorstellungen völlig. Hier hatte er endlich alles das, was er brauchte, um sein Lächeln geraume Zeit zu zerschlagen. Es war eine Frau, die er nie zu Gesicht bekommen hatte, die niemals mit ihm sprach, eine schwarze Maske vor dem Gesicht trug und augenscheinlich ein rein persönliches Interesse daran hatte, das zu tun, weshalb er eigentlich gekommen war. Ihr ging es zwar nicht ums Geld, doch er gab es ihr reichlich, so dass er bald ihr einziger Kunde wurde.
Dann legte er die Zusammenkünfte mit ihr auf den Bridgeabend seiner Frau und gab vor, in dieser Zeit Squash zu spielen. So ging das nun seit bestimmt sechs Jahren, und auch die Striemen der Peitsche und die Kratzer der Fingernägel würde seine Frau nie bemerken, denn sie schliefen seitdem in getrennten Zimmern, und seine Frau hatte diese, wie alle seine Entscheidungen, kommentarlos hingenommen.

Er hatte sich kaum Gedanken darüber gemacht, was sie sagen würde, wenn sie je davon erführe. Das war aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Sicherlich glaubte sie, er habe eine Geliebte, und das würde sie hinnehmen, solange sie es nicht wissen müsste, denn so war sie erzogen. Und so gingen die Jahre hin, und es war nicht mehr ganz so unerträglich mit seinen Selbstzweifeln.

Heute war wieder Bridgetag, wie er es nannte. Diese Tage waren im Büro besonders anstrengend, denn sein Lächeln quälte ihn nun noch mehr als gewöhnlich. Jetzt jedoch lag er schon hier in dem Appartement, gefesselt an vier Bettpfosten und erwartete, dass jemand sein Lächeln zerstörte. Die Peitsche schlug auf ihn ein und bei jedem Schmerz, der seinen Körper durchfuhr, verzog er sein Gesicht zu einem hässlichen Grinsen. Ganz und gar besiegen konnte man das Lächeln eben nicht. Sie hatten die verschiedensten Foltermethoden ausprobiert, aber die Peitsche half immer noch am meisten, – ihnen beiden. Doch heute hatte sie etwas geplant, das brutaler war als alles, was sie ihm je geboten hatte. Mitten in der Behandlung legte sie die Peitsche weg.

Er war sicher, dass die Behandlung noch nicht zu Ende war, aber sie hatten keine festen Zeiten und, er nahm es hin, wie er alles von ihr hinnahm, schließlich war er ja genau deshalb gekommen. Sie löste aber nicht wie sonst immer seine Fesseln, sondern ging im Raum umher und schaltete überall das Licht ein. Dann stand sie vor ihm, ganz in schwarzem Lack und begann die schwarze Ledermaske vor dem Gesicht loszuschnallen.
Alles was sie wollte, aber das nicht! Sollte sie ihn treten oder schlagen, aber nicht ihr bisheriges Verhältnis zerstören, er wusste längst, dass es ihm wichtiger war als alles andere, denn es war die einzige Möglichkeit für ihn, sich noch aufrecht zu halten. Er wollte gar nicht wissen wie sie aussah, denn er glaubte, dass es ihr bisheriges, sorgloses Verhältnis nur stören könnte.

Doch die Frau ließ sich nicht davon abhalten die Maske abzuschnallen, und Sekunden später war alles vorbei. Sein Lächeln verschwand völlig, auch kein Grinsen mehr. Gar nichts. Er schrie. Er schrie sie an, alles so zu lassen, wie es sei. Doch sie riss sich die Maske vom Gesicht, und nun war er ganz sicher, dass alles zu Ende sei, als seine Frau zu ihm sagte:

„Lass uns endlich einmal darüber reden.“

Rollenzwang (24) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2001. Alle Rechte vorbehalten.