Marcos Haus lag ganz oben auf einem Felsenkliff, ein alter Leuchtturm, der außer Betrieb war. Marco hatte das Nebengebäude und den Turm für einen horrenden Betrag sanieren und ausbauen lassen. Seitdem lebte er dort recht einsam und zurückgezogen. Seine einzige Beschäftigung war das Bauen von Flaschenschiffen. Was ihn jetzt bewog, wieder ins Geschäftsleben zurück zu kehren, blieb Steven schleierhaft.
Die kleine anderthalbspurige Küstenstraße schlängelte sich in endlosen Haarnadelkurven dreißig Kilometer hinauf. Auf der Meerseite der Straße ging es manchmal bis zu 150 Meter hinab. Ein nervöser Autofahrer würde sich in den Kurven möglichst dicht an die Landseite kleben. Aber nicht Steven. Er war ein exzellenter Fahrer, früher war er Tourenwagen-Rennen in Toronto gefahren. Hinter der letzten Kurve ging es noch gut fünfzig Meter geradeaus, bis auf den kleinen Vorhof.
Marco hatte seinen Bruder schon vor 10 Minuten mit dem Fernglas entdeckt. Er stand am Tor und hielt es auf. Steven nickte ihm zu und fuhr vor die Garage.
„Stell ihn ruhig rein. Es wird gleich zu regnen anfangen“, rief Marco und drückte die Fernbedienung für das Garagentor. Aber das Tor öffnete sich nur zur Hälfte und blieb dann stecken.
„Klemmt ewig, das Mistding.“
„Ist doch egal, soll er doch nass werden.“
„Trotzdem, ich muss da gleich mal ran. Das Tor geht mir auf die Nerven, ehrlich. Wenn ich nicht gleich was mache, schiebe ich es nur wieder vor mir her.“
„Kannst du das nicht morgen …“
„Aber nein. Geh du nur schon rein. Dauert höchstens fünf Minuten.“ Marco verschwand in der Garage und Steven hörte ihn mit Werkzeugen hantieren. Sein Bruder war schon immer merkwürdig gewesen. Steven ging ins Haus und wartete in der Diele.
Kurze Zeit später kam Marco fröhlich grinsend herein und legte eine Zange und einen riesigen Schraubenschlüssel auf der Anrichte ab. „Hab’s so schnell nicht hingekriegt. Geh ich doch später noch mal ran.“
„Hör zu Marco, ich muss mit dir sprechen.“
„Schön, dass du den Weg zu mir heraus gefunden hast. Du hast dich lange nicht blicken lassen.“
„Spar dir das. Es gibt jetzt wirklich Wichtigeres.“
„Ich hoffe, es geht nicht ums Geschäft.“
„Doch, genau darum bin ich hier. Das muss jetzt vorzeitig geklärt werden. Später soll es darum keinen Streit mehr geben.“
„Gut, das meine ich auch. Ich habe dir meinen Standpunkt schon erklärt und dabei bleibe ich auch, egal ob dir das gefällt oder nicht.“
„Du bist ein sturer Dickschädel.“
„Von wem ich das wohl habe“, höhnte Marco. „Aber mach dir keine Gedanken, ich habe diese Angelegenheit bereits auf meine Art geregelt. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee, bevor du wieder fährst?“
„Danke gern“, antwortete Steven beherrscht und ignorierte den kleinen Rauswurf.
Steven wusste, dass mit seinem Bruder nicht weiter zu diskutieren war. So war das schon immer gewesen. Deshalb wäre er als zweiter Geschäftsführer auch nicht tragbar. Auf diese Situation war Steven vorbereitet. Kate würde ihm ein Alibi verschaffen. Als Marco sich umdrehte, um in die Küche zu gehen, griff Steven nach dem Schraubenschlüssel auf der Anrichte. Er holte weit aus. Der erste Schlag musste sitzen, denn Marco war älter und kräftiger als er. Zur Sicherheit schlug Steven noch ein paarmal zu, dann ließ er den Schraubenschlüssel fallen und stürmte durch das Haus. Er riss Schubladen auf und entleerte sie auf den Boden, schmiss Gegenstände von den Regalen und warf einige Möbelstücke um. Zum Schluss schlug er noch ein Fenster ein und war stolz darauf, daran gedacht zu haben, dies auch von außen zu tun. Alles sollte nach einem missglückten Einbruch aussehen. Ein letzter Blick noch auf seinen toten Bruder. Hätte er doch nur einmal in seinem Leben nachgegeben!
Steven ließ den Motor seines Ferraris aufheulen und bog wieder auf die Küstenstraße ein. Nach der ersten Kurve spürte Steven die Erleichterung. Nun hatte alles seine Ordnung. Niemand wusste, dass er hier war. Und niemand hatte ihn gesehen. Steven musste nur die Nerven behalten. Plötzlich war ihm klar, dass er das erste Mal in seinem Leben besser vorsichtig fahren sollte. Der kleinste Fahrfehler und er steckte hier irgendwo fest. Dann gäbe es kein Herausreden mehr. Steven trat auf die Bremse. Er riss sich stark zusammen. Am liebsten wäre er mit Vollgas durch die Kurven gerast, aber er musste unbedingt vorsichtig sein. Fast zartfühlend lenkte er in die erste Haarnadelkurve ein. Dann die zweite. Er merkte, wie er allmählich wieder schneller wurde. Es fiel ihm wirklich schwer langsam zu fahren, doch es nützte nichts. Er trat erneut auf die Bremse, um sich zu zügeln. Doch nichts geschah. Er wurde nicht langsamer, sondern sanft, aber unabdingbar schneller. Er zog die Handbremse. Nichts. Er versuchte mit der Motorkraft zu drosseln und schaltete runter. Aber es ging zu steil bergab. Nichts konnte den Wagen verlangsamen. Noch einmal startete er einen verzweifelten Versuch. Schaltete in den ersten Gang. Er knirschte fürchterlich, als sich die Zahnräder im Getriebe verabschiedeten. Nun ging es nur noch rasanter auf die drei schlimmsten Kurven zu.
Steven war wirklich ein guter Fahrer, aber selbst, wenn er den Wagen stoppen könnte, ohne fremde Hilfe könnte er nicht weiterfahren. Jemand würde man ihn später wiedererkennen und ihn wegen des Mordes drankriegen. Beim Gedanken an Marco, der jetzt tot im Flur lag, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Auch sein Bruder hatte alles vorzeitig bereinigt. Steven sah ihn vor sich, wie er grinsend zur Tür reinkam und das Werkzeug auf die Anrichte legte. Natürlich! Nicht das Garagentor, sondern seine Bremsleitungen, hatte sein Bruderherz bearbeitet. Jetzt galt es nur noch zu überleben.
Zwei der nächsten drei Kurven, schaffte Steven dank seiner überragenden Fahrkünste. Schleudernd und kurz vor dem Ausbrechen zwar, aber er schaffte sie! In der dritten geriet er ein klein wenig über den Fahrbahnrand hinaus, sein rechtes Hinterrad brach weg, die Achse schlug auf den Asphalt, der Ferrari geriet unkontrollierbar ins Schleudern. Dann stürzte er 80 Meter in die Tiefe.
Als das Fahrzeug endlich im Wasser aufschlug, war Steven ohne Bewusstsein und von seinem Airbag eingeklemmt. Der Sarg, den Marco ihm zugedacht hatte, war nass und reichlich teuer, aber dafür in Stevens Lieblingsrot.
Stevens Frau Kate legte den Hörer auf, Marco war nicht rangegangen, also hatte ihr Mann wohl sein Werk vollendet. Kate hatte Sorge, dass er vielleicht im letzten Moment noch kneifen würde. Bei Marco war sie sich sicher, der hatte ihre Warnung heute Morgen sehr ernst genommen. Kate betrachtet ihre langen Waden im Witwenkostüm und fuhr fort ihre Trauerrede über den unerwarteten Tod der beiden Brüder einzustudieren. Das sollte zugleich ihre Antrittsrede für ihren neuen Vorstandsvorsitz werden.
Tote Brüder erben nicht (92) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1995. Alle Rechte vorbehalten.