Aber Hermine wusste, dass sie es nicht ablehnen konnte, ihrer Schwester mit den kleinen Zwillingen zu helfen. Alle anderen aus der Familie hatten sich ja auch dazu bereit erklärt, zu helfen. Also fand die große Familienfeier in diesem Jahr eben bei ihrer Schwester Ulrike statt.
Hermine seufzte und nahm sich die angebrochene Flasche Rotwein aus dem Schrank. Gut es war erst kurz nach fünf, aber Hermine brauchte jetzt einen wärmenden Trost.
Eigentlich hatte sie ja eigene Pläne für Weihnachten gehabt. Seit 12 Jahren hatte sie eigene Pläne für Weihnachten. Seit 12 Jahren wollte Sie unbedingt Weihnachten am Nordkap verbringen. Oder zumindest kurz davor. Eine Fahrt mit der Hurtig-Route, das war ihr Plan. Sie wusste nicht mehr genau, wie dieser Wunsch entstanden war. Vielleicht sollte es die polarnächtige Stille sein, die sie von dem Trubel des jährlichen, großen Familientreffens zu Weihnachten befreite, oder vielleicht waren es auch nur schöne Bilder in irgendeinem Werbeprospekt gewesen. Wer weiß?
Letztlich war das aber auch egal. Tatsache war, dass sie nun seit 12 Jahren versuchte, sich einmal Weihnachten der Familie zu entziehen und es bis heute nicht geschafft hatte.
Zweimal hatte sie bereits gebucht und musste von der Reise zurücktreten. Einmal, weil ihre Mutter im Krankenhaus lag und das andere Mal, weil sie selbst sich beim ersten Eis des Jahres den Fuß gebrochen hatte. Bei allen anderen Weihnachtsfesten, war ihre Anwesenheit schon frühzeitig für unabdingbar erklärt worden.
Ja, es war schön mit der Familie zu feiern. An die 25 Personen waren sie ja immer. Streit oder Ärger gab es natürlich auch immer. Versöhnungen im Halbrausch waren folgerichtiger Weise ebenfalls ein fester Programmpunkt. So wie, durchdrehende Kinder und frustriertes Zurückziehen in Keller, Garten oder auf dem Dachboden und natürlich das phänomenale Essen ihrer Mutter und Tanten.
Innerlich spürte Hermine, wie der Rotwein, die Bereitschaft sich ihrem Schicksal zu fügen in alle ihre Hirnzellen spülte. Sie hatte sich damit abgefunden, lachend zuzuschauen, wie ihre Neffen und Nichten schreiend zum vorzeitigen Geschenkeerguss kamen, wie Gedichte bruchstückhaft und hölzern daher gesagt wurde, wie falsche Töne beim Singen von allen anderen ignoriert wurden und wie in der Kirche Pelzmäntel, die das ganze Jahr über tabu waren, durch die Reihen der Ungläubigen müffelten. All das würde sie wahrscheinlich vermissen, wenn man sie nur einmal Weihnachten allein ans Nordkap ließe.
Das Telefon klingelte. Mutter. Ja, sie hatte schon gehört. Ja, Ulrike brauchte ihre Unterstützung. Ja, dann feierten sie halt in Bremen. Ja, das konnte man verstehen, mit den Kleinen war das alles nicht so einfach, zumal die Zwillinge ja nur vier Jahre nach Kind Nummer Drei gekommen waren. Völlig überraschend natürlich.
Hermine konnte das wirklich verstehen. Sie fand schon die ersten drei Kinder ihrer Schwester extrem anstrengend. Mit keinem von denen hätte es Hermine länger als eine Woche ausgehalten.
Aber das war ja auch nicht nötig. Weihnachten waren ja nur vier Tage.
Mit Mutters Anruf war die Sache jetzt endgültig entschieden. Weihnachten fuhren alle zu Ulrike, auf ihren edel restaurierten Bauernhof in der Nähe von Bremen. Platz war dort ja genug. Und zum Nordkap könnte sie ja auch ein andermal fahren. Schließlich bekam die eigene Schwester ja nicht alle Jahre Zwillinge.
Gut, da war Hermine jetzt nicht ganz so sicher, aber egal, es war ja jedes Jahr irgendwas.
*
„Ich hoffe du hast passende Kleidung mit“, freute sich Ulrike und nahm ihre Schwester in den Arm. Sie sah aus, wie das blühende Leben. Die Kinder konnten ihr offenbar nichts anhaben. Hermine freute sich, dass es ihrer Schwester so gut ging. Aber warum hatte sie jetzt hier hoch kommen müssen?
„Komm, Schwesterchen, steig ein!“
Der Minivan war vollgestopft mit Kindersitzen und Essensresten. Hermine stieg vorne ein. Ihre Schwester war schon immer sehr pragmatisch gewesen und sehr unordentlich. Eigentlich verstand Hermine gar nicht, wie ihre Schwester in diesem Chaos klar kam.
„Jetzt machen wir es uns richtig schön“, frohlockte Ulrike und scherte ohne gesetzten Blinker nahtlos in den Verkehr ein. Das Chaos rund um den Bahnhof brachte sie aber auch nicht eine Sekunde aus der Ruhe. Langsam versuchte Hermine sich auf den bevorstehenden Ansturm vorzubereiten.
Doch ihre Schwester verließ den Stadtbereich gar nicht. Ein Schild Flughafen irritierte Hermine.
„Seid ihr umgezogen?“
„Nein, nein. Ich hab eine Überraschung für dich“ erklärte Ulrike und strahlte vor Glück. Sie bog auf den Zubringer zu Flughafen ab.
„Wo fahren wir hin?“ wollte Hermine verunsichert wissen. Improvisation war nicht wirklich ihre Sache.
„Fahren?“ Ulrike lachte aufdringlich „Wir fliegen!“
„Was?“
„Wir fliegen nach Bergen!“ freute sich Ulrike über ihre offensichtlich geglückte Überraschung. „Wir beide fliegen jetzt nach Bergen und ...“
Weiter kam sie nicht, dann fiel Hermine ihr aus allen Wolken ins Wort: „Nehmen wir die Hurtig-Route!“
„Genau!“ Ihre Schwester war unwesentlich begeisterter als sie selbst.
„Wieso hast du ...?“ versuchte Hermine ihren Anflug von Sprachlosigkeit zu überwinden.
„Du redest doch schon seit Jahren davon, dass du Weihnachten ans Nordkap willst!“
„Und die Kinder ...?“ fragte Hermine verwirrt, während Ulrike einen Dauerparkplatz am Flughafen suchte.
„Es ist für alles gesorgt!“ rief Ulrike. „Ich plane das schon seit dem Sommer, weißt du?!“
Natürlich wusste Hermine das nicht. „Und wir fliegen jetzt ganz allein nach Bergen?“ Hermine konnte es kaum fassen. „Und die anderen?“
„Ach, die kommen auch mal ohne uns klar“, erklärte Ulrike fröhlich. „Mensch ich kann gut mal ein bisschen Zeit ohne Kinder gebrauchen!“
Als sie ins Flugzeug stiegen, kam Hermine die Situation noch immer völlig absurd vor. Sie und ihre Lieblingsschwester, Weihnachten, ganz allein auf dem Weg zum Nordkap.
Als sie auf den Sitzplatz neben sich sah und bemerkte sie, dass Ulrike schon beim Start kurz vorm Einschlafen war. Beinahe hätte sie vor Rührung losgeheult. Das wird ihr schönstes Weihnachten. Allein, und doch nicht allein in der nordisch, rauhen Wildnis. Ruhe!
Hermine dachte darüber nach, ob es auf diesen Schiffen wohl einen Kamin gab. Irgendwie brauchte sie dringend einen Kamin. War ja schließlich Weihnachten. Aber egal. Das Schönste war, dass sie ein paar ruhige und gemeinsame Tage mit Ulrike verbringen würde.
Auch, wenn Ulrike so ganz anders lebte, als sie selber, mochte sie ihre Schwester. Wie sie, kaum dass eine Sekunde keine Anforderung an sie gestellt wurde, mit völlig entspannten Gesichtszügen wegdämmerte, faszinierte Hermine. Ihre Schwester war mit ihrem chaotischen Leben einfach zufrieden und das freute sie.
Hermine ließ sich noch einen 0,125 Liter Rotwein servieren, wobei sie über das kontraindizierte, künstlich Maßvolle bei Fluggesellschaften nachdachte und entspannte sich. Das wird das erste Weihnachten seit Jahren, das nicht nur schön, sondern auch einfach entspannend wird.
In Stockholm mussten sie umsteigen und Ulrike war kaum, dass sie wieder aufgewacht war im vierten Gang auf voller Drehzahl. Sie organisierte schon mal ein Taxi, das sie zum Schiff brächte, stellte sicher, dass ihr Gepäck den Umstieg ebenfalls mitmachte und überzeugte sich vom ordnungsgemäßen Zustand der schwedischen Flugzeugbesatzung.
Typisch Ulrike.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich auf diese Reise freue“, sagte Hermine. „Du hast mir wirklich eine riesen Freude gemacht, die ich kaum erwidern kann!“
„Ach was. Papperlapapp!“ wischte Ulrike ihre Anwallungen von schwerer Schwesternliebe beiseite. „Du hast mir auch all die Jahre beigestanden. Gott, bin ich froh, wenn wir auf dem Schiff sind. Ich brauche was zu Essen und ein hartes Bett.“
Das stimmte nicht. So etwas Schönes hatte Hermine noch nie für ihre Schwester getan. Alles, was sie für ihre Schwester bisher getan hatte, war mit Vorbehalten und einem leichten Anflug von Verachtung geschehen. Hermine fühlte sich ernsthaft beschämt.
*
Ihr Schiff war die Midnatsol. Sie lag da und wartete wohl nur auf Hermine und Ulrike, um endlich ablegen zu können. Perfekt! Nun ging das Abenteuer los.
Sie nahm ihre Bordkarte zurück und betrat das Schiff. Ihr Traum würde endlich wahr werden. Sie bog um die Ecke, wo eine Treppe hinunter zu ihrer Kabine führen sollte. Und ... Da stand ihre Mutter vor ihr. Aber nicht nur die. Die ganze Bagage stand an der Treppe und rief: „Überraschung Tante Hermine!“
„Was ...?“ fragte sich Hermine. Wenigsten hatte sie nicht das Gefühl, dass sie jetzt ihre völlige Entgeisterung verbergen musste.
Fassungslos starrte sie auf den Menschenhaufen, der ihre Familie darstellte.
„Wie kommen die denn hier hin?“ fragte sie Ulrike, die breit grinsend hinter ihr stand.
„Die sind schon gestern mit dem Zug vorgefahren. Auch mit der neuen Stelle kann Andreas sich keine zwanzig Flugtickets leisten“, erklärte Ulrike arglos. „Nun steht einem weiteren wunderschönen Weihnachtsfest der Großfamilie Seeger wohl nichts mehr im Wege. Frohes Fest und jedermann eine friedliche Zeit!“ rief Ulrike und umarme ihre Kinder, die auf sie zugestürmt waren.
Natürlich hatten Sie eine Menge gewichtiger Dinge zu erzählen, jetzt wo sie ihre Mutter seit über 24 Stunden nicht mehr gesehen hatten. Ulrike war so glücklich.
„Eine wirklich schöne Weihnacht wünsche ich dir! Wir wissen doch alle, wie sehr du dir diese Reise gewünscht hast!“ sagte Hermines Mutter gerührt, mit einem leichten Zittern in Stimme, das sie immer hatte, wenn die Bescherung hinter ihr lag und umarmte ihre Tochter Hermine herzlich.
Jetzt fing auch Hermine hemmungslos an zu weinen. Vor Rührung natürlich. „Ein frohes Fest, wünsche ich euch allen!“ schluchzte sie und umarmte einen nach dem anderen. Weihnachten eben.
Hermine hat eigene Pläne (120) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2012. Alle Rechte vorbehalten.