Reinhardts Versuchung

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Es war ein haarfeiner, nicht eben glatter Schnitt in der Haut. Schmerzhaft. Reinhardt verzog das Gesicht. Beim Umblättern einer Seite hatte er nicht Acht gegeben und war mit der Fingerkuppe gedankenverloren an der Kante des Papiers entlanggefahren. Verblüfft schaute er auf die kleine blutige Spur an seinem Zeigefinger und den Tropfen, der auf die Seite gefallen war. Das Papier sog sich ohne besondere Eile voll. Sein Blut schien der hölzernen Struktur Leben einzuhauchen. Reinhardt war zu sehr fasziniert von Vorgang, als dass er den Schmerz empfand. Nur gut, dass Marlies derzeit auf Hawaii war. Genaugenommen natürlich auf Ohahu.

Denn ein Hawaiibesuch schrie geradezu nach einer Besichtigung des Freilichtmuseums von Pearl Harbor. Dort gab es täglich um 6.55 Uhr eine gigantische Holo-Show über die Geschehnisse des 7. Dezembers 41. Der Höhepunkt der Show war die dramatische Versenkung der amerikanischen Pazifikflotte. Gegen eine geringe Gebühr konnte man sogar selbst an einer Flak Platz nehmen und auf die holographischen japanischen Angreifer feuern. Immer in der Hoffnung, so das unvermeidliche Schicksal der USS Arizona doch noch irgendwie abzuwenden. Sicherlich würde Marlies unaufhörlich kichernd, ihre Flugabwehrkanone im sinnlosen Trommelfeuer betreiben, egal ob sich gerade etwas in ihrem Fadenkreuz befand oder nicht.

Wenn sie in diesem Moment jedoch das Blut an seinem Finger gesehen hätte, wäre sie womöglich in Ohnmacht gefallen. Sie hätte ihn bestimmt wieder einen Neandertaler genannt und verlangt, dass er unverzüglich zu einem Korrektor ginge. Sie sagte ihm oft und gerne, dass er ein echter Steinzeitmensch wäre. Schon deshalb, weil er diese widerlichen Bücher las. Eigentlich sagte sie meist Schmuddel-Blätter dazu. Weniger wegen des Inhaltes, der sich sicherlich ihrem Verständnishorizont weitestgehend entzog, als vielmehr wegen ihres Aussehens. Das Wort Bücher kam ihr nur ungern über die Lippen. Bücher waren in ihren Augen etwas Anstößiges. Etwas, das man allenfalls als Relikt vergangener Zeiten in einer Glasvitrine ausstellte. Vielleicht als eine Art Accessoire der Bildungselite. So gesehen hätte es wenig Sinn gehabt, ihr zu erklären, dass Steinzeitmenschen noch gar keine Bücher hatten. Bestenfalls hätte er mal wieder als Pedant oder ewig nörgelnder Besserwisser dagestanden. Für Marlies war alles Steinzeit, was vor der Genetischen Revolution lag. Oft galt aber auch als steinzeitlich, was einfach nur aus der Mode gekommen war. Folglich hatte Marlies wenig Verständnis für Reinhardts Vorliebe für Bücher. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum sie überall in der Wohnung auf diese unnützen Staubfänger stoßen musste.

Im Prinzip hatte sie ja Recht. Bücher kosteten ein Heidengeld und Rohstoffverschwendung war sie obendrein. Wo Reinhardt doch jedes Buch, wie alle anderen Menschen auch, aus dem Netz auf seinen Topeg-Screen hätte laden und lesen können. Aber für ihn war das einfach nicht dasselbe.

Reinhardt schlug das Buch zu und strich über den geprägten Leineneinband. Man fühlte das Gewicht der Worte nicht, wenn man nur eine elektronische, spiegelfreie Folie in der Hand hielt. Das war nur ein und dasselbe Blatt mit immer neuem Inhalt. Man hielt nie das ganze Wissen auf einmal in den Händen. Marlies hatte laut aufgelacht, als er irgendwann versucht hatte ihr das zu erklären. Sie fand diesen Bücherfetischismus vor allem deshalb albern, weil man die Bücher auch noch selber lesen musste.

Topeg las einem den Text wenigstens vor. Dabei konnte man entspannen. Topeg hatte eine sanfte, fast einschläfernde Stimme. So kam es auch, dass Marlies höchsten mal drei Seiten eines Romans pro Tag las. Passiv, wie sich wohl von selbst verstand. Dann war sie meistens eingeschlafen. Was sie so lesen nannte, bezeichnete Reinhardt bestenfalls als chemiefreie Schlafdroge. Selber lesen war da schon etwas ganz anderes. Gut, es strengte deutlich mehr an, aber dafür es ließ einen auch nicht so schnell wieder los. An Schlafen war dabei nun gar nicht zu denken. Reinhardt hatte schon ganze Nächte durchgelesen. Es war ein Glück, dass er Wissenschaftler war, denn die Ausnahmegenehmigungen für neue Hardwarebücher waren rar.

Das Blut an Reinhardts Finger hatte aufgehört zu fließen. Es überzog sich mit einer zähen, antrocknenden Haut. Reinhard drückte auf den Tropfen und sah seinen Fingerabdruck, der in der dickflüssigen, roten Masse seine Rillen hinterließ.

Dieses Blut war es, was ihn von einem Neandertaler und jedem anderen Menschen der vor der Genetischen Revolution lebte unterschied. Blut war das effektivste Medikament dieser Zeit. Genaugenommen gab es kaum andere Medikamente. Alles andere waren Reinhardts Meinung nach eher Drogen. Eigentlich auch so ein Begriff aus der Steinzeit. Blut aber, das war die Substanz, die das Leben der Menschheit mit einem Schlag verändert hatte. Die wenigsten Menschen wussten heute überhaupt noch, wie das Leben vor der Genetischen Revolution war. Die meisten wussten nicht einmal mehr, wie es zur Genetischen Revolution gekommen war, und worin diese überhaupt bestand. Nur, dass seit dem alles besser war, das wusste jedes Kind.

Reinhardt las alles über das Zeitalter der Seuchen, was er in die Finger bekam. HIV war das Zauberwort gewesen, das ihn damals in seinen Bann gezogen hatte und seine Leidenschaft für Krankheiten begründet hatte. HIV! Eine Seuche, die jahrzehntelang die Menschheit bedroht hatte. Erst hatte das wohl niemand so recht ernst genommen. Die Menschheit war zu jener Zeit ja an Krankheiten gewöhnt. Infektionen, Krebs, hämorrhagisches Fieber, das war früher der Alltag. Damit hatten die Leute gelebt, jedenfalls, wenn sie nicht daran gestorben waren. All das hatte längst keinerlei Bedeutung mehr. Diese Schreckgespenster waren seit nunmehr zweihundert Jahren Geschichte. Niemand erinnerte sich auch nur an die Namen der vielen Todesengel, die durch die Jahrhunderte davor gerauscht waren und walkürengleich die Menschen zu Tausenden dahingerafft hatten. Aber hier stand es alles noch drin. In den Büchern. Schwarz auf Weiß. Festgehalten für die folgenden Generationen. Das waren keine phantastischen Hirngespinste, die sich irgendwelche mental gestörten Kreativskripter für geistlose Holoevents ausgedacht hatten. Da gab es keine Helden. Kein Happyend. Die Seuche schlug gnadenlos und willkürlich zu. Sie kannte keine Freunde und keine Feinde. Sie war einfach nur ein alles verschlingender, riesiger und nimmersatter Schlund auf der Suche nach Futter.

Die spanische Grippe von 1918 zum Beispiel. Ein an für sich relativ ungefährlicher Virus. Es fing auch ganz harmlos an. Einige Fieberfälle in einem Militärcamp in Kansas. Fieber war in der damaligen Zeit nichts wirklich Außergewöhnliches. Aber die Grippe verbreitete sich rasend schnell überall auf der Welt. In zwei dicht aufeinanderfolgenden Wellen. Die zweite Welle begann in Frankreich und brachte 27 Millionen Menschen den Tod. 27 Millionen Menschen! Das war unvorstellbar. Reinhardt schob das Buch erregt über den Schreibtisch. Krankheiten waren für ihn zu einer unglaublichen Faszination geworden. Schüttelfrost! Er konnte sich das kaum vorstellen. Man zitterte, als wenn einem kalt war. Und man konnte damit einfach nicht aufhören, selbst wenn die Umgebung noch so warm war. Oder Fieber? Die Körpertemperatur veränderte sich. Man war schweißgebadet, wie nach einer halben Stunde E-Squash. Unglaublich. Wie hatten die Menschen so einen Zustand ertragen können? Husten, Niesen, Hautausschläge, eitrige Geschwüre! Was es nicht alles gegeben hatte?! Und die Menschheit hatte all das überlebt. Nicht nur das. Manche Menschen wurden sogar mehrmals in ihrem Leben krank und überstanden das immer und immer wieder.

Gerade die Grippe. Manche Menschen sollen sie sogar drei-, vier-, vielleicht gar fünfmal überlebt haben. Ein Erreger, mit dem der Körper im Normalfall gut fertig wurde. Eine reine Routineaufgabe für ein intaktes Immunsystem.

Reinhardt hatte noch nie eine Krankheit gehabt. Er kannte auch niemanden, der jemals krank geworden wäre. Das alles verdankten sie dem T-Rex-Killerprotein, das in ihrem Blut schwamm. Ein echter Allesfresser. 2013 hatte Dr. Jordan den Zell-ID Strang entwickelt und schon 2017 wurde das Gesetz zur Reinerhaltung des menschlichen Zellmaterials verabschiedet. Seitdem waren Krankheiten so gut wie unbekannt. Es wurde zur Pflicht, dass jede befruchtete Eizelle mit dem Zell-ID Gen bestückt wurde. Natürlich hatte es mehr als eine Generation lang gedauert, bis alle Menschen das Zell-ID Gen in sich trugen. Schließlich gab es auch Widerstände gegen diesen drastischen Eingriff ins menschliche Erbgut. Leider hatten die Gegner auf lange Sicht gesehen jedoch nur geringe Überlebenschancen. Daher erübrigte sich der Widerstand irgendwann. Von nun an hatte jede menschliche Zelle eine Art Stempel, dass sie echt war. Die ebenfalls von Dr. Jordan entwickeln T-Rex-Antikörper brauchten von diesem Tag an nur noch alles zu zerstören, was nicht den menschlichen ID-Code in sich trug. Das Ende aller unerwünschten Bakterien, aller Viren, überhaupt aller Zellen, die in einem gesunden Körper nichts zu suchen hatten. Der ID-Code wurde nicht einmal an natürlich mutierte körpereigene Zellen weitergeben. Das verhinderte eine genetische Prüfsumme, die jeder, zur Befruchtung freigegebenen, menschlichen Keimzelle eingepflanzt wurde.

Alle früheren Versuche, mit Viren und unliebsamen Bakterien fertig zu werden, waren immer wieder daran gescheitert, dass die Erreger beständig ihre Form und Oberfläche änderten. Oder, dass gar völlig neue Erreger auftauchten und das Immunsystem seinen Gegner meist nicht einmal erkannte. Damit war nun Schluss, egal wie ein Erreger aussah, wenn er keinen menschlichen ID-Code trug, wurde er vernichtet. Konsequent und gnadenlos. Die Viren waren zwar immer noch da, aber sie konnten den Menschen nichts mehr antun.

Reinhardt schaute auf das kleine Phiole auf seinem Schreibtisch. Darin befand sich ein harmloser Erreger der grippeähnliche Symptome verursachte. Was würde er darum geben, einmal zu erleben, wie es war, von solch einem Erreger befallen zu sein? Die Leiden nachzufühlen, zu verstehen, was für eine unendliche Erleichterung es für die Menschheit gewesen sein musste, von solchen Gebrechen verschont zu sein? Gesundheit bedeutete dem heutigen Menschen recht wenig. Die Menschen waren ja gesund. Sie kannten nichts anderes. Reinhardts Entschluss war längst gefasst. Er musste herausfinden, was das für ein Gefühl war: Schnupfen.

Er stand auf und ging in die Küche. Alle Fenster und Türen waren sorgsam verschlossen. Aus der Küche nahm er sich ein Glas Wein mit in das Arbeitszimmer. Der Genuss von Alkohol erhöhte seines Wissens nach die Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Zwei Wochen würden ihm von nun an bleiben, dann käme Marlies von Hawaii zurück. Sie hatte keine Ahnung davon, dass er sich ebenfalls Urlaub genommen hatte. Sonst hätte sie womöglich darauf bestanden, dass er sie nach Hawaii begleitet hätte. Nichts lag ihm ferner. Wenn er sich erst einmal infiziert hatte, konnte er das Haus nicht mehr verlassen, das wusste er. Und er würde leiden.

Dieses Glasröhrchen enthielt wirklich etwas ganz besonders. Er selbst hatte es im seinem Labor hergestellt. Eigentlich war sein Tätigkeitsfeld auf die genetischen Variationen von Papayas beschränkt. Aber das hier hatte er sich so nebenbei zurechtgebastelt. Ein harmloser Erreger. Aber der Clou war: Der Virus besaß einen menschlichen ID-Code. T-Rex würde es nicht erkennen. Monatelange Arbeit steckt in dieser klaren Flüssigkeit. Und alles hatte er heimlich nach Feierabend und unter größten Sicherheitsvorkehrungen entwickeln müssen. Aber es war geschafft. Seit drei Wochen war er im Besitz seines Spezialschnupfens, wie er seinen Zögling liebevoll nannte.

Sicherlich war das ein gewagtes Experiment, aber er hatte vorgesorgt. In einem Devotionalienhandel hatte er sich ein altes Verbandspäckchen besorgt. Eines, wie es die Koreaner im letzten großen Krieg gegen China bei sich hatten. Reinhardt öffnete das olivgrüne Stoffpäckchen. Das hatte er schon oft getan. Inzwischen kannte er den Inhalt auswendig und könnte die Gegenstände mit geschlossenen Augen aus und wieder einräumen. Rechts in der Klappe war seine Versicherung, dass die Grippe ihn nicht allzu sehr in die Mangel nehmen konnte. Antibiotika! Ein ganzes Päckchen. Damit hatte man früher so manche Infektion besiegt. Ehrfurchtsvoll platzierte er das Päckchen auf dem Schreibtisch. In Griffweite. Das Haltbarkeitsdatum auf der Packung war zwar seit etwa 140 Jahren abgelaufen. Aber Reinhardt war absolut zuversichtlich, dass diese Wunderdroge, trotz allem ihre volle Wirkung entfalten würde, wenn es darauf ankäme.

Noch einmal atmete Reinhardt tief durch und öffnete dann die Phiole. Gespannt saß er da. Eigentlich wusste er, dass die Wirkung nicht sofort eintrat. Trotzdem erwartete er irgendwie, das Eindringen der Viren in seinen Körper unverzüglich zu spüren. Schließlich war er vollkommen sensibilisiert und beobachtete jede Zelle seines Körpers, mit seinem inneren Auge. Aber nichts geschah. Er trank seinen Wein und wartete. Zwei Stunden. Nichts. Er durfte nicht ungeduldig werden. Inkubationszeit bis zu drei Tagen. Das konnte verdammt lang werden.

Reinhardt beschloss, sich wieder seinem Buch zu widmen. Die Pest von 1348 bis 1352. 25 bis 50 Millionen Menschen. Niemand konnte das wirklich so genau sagen. Ob jetzt 10 oder zwanzig Millionen mehr oder weniger, was war das für eine Dimension? Das entzog sich jeder Vorstellung. Und jeder einzelne Tod verbunden mit den persönlichen Schmerzen des Infizierten. Mit seinem ganz privaten Todeskampf. Nicht mehr lange und auch Reinhardt könnte zumindest einen Teil dieses Leidens verstehen. Auf seiner Haut waren noch keine Beulen. Er erwartete auch keine. Schließlich handelt es sich nur um eine ganz einfache Grippe. Für heute erwartete er gar nichts mehr und ging zu Bett.

Auch der zweite Tag war von geringem Erfolg gekrönt. Reinhardt dachte schon daran, bei der Codierung einen Fehler gemacht zu haben. Oder vielleicht war er längst gegen alles immun? Am Abend verspürte er endlich ein leichtes Kratzen im Hals. Erst dachte er, dass ihm beim Essen etwas im Hals stecken geblieben wäre. Aber nein, das war es! Ein erstes Symptom! Reinhardt setzte sich sofort an den Schreibtisch und machte sich Notizen. An Schlaf war heute Nacht gar nicht zu denken. Das Kratzen im Hals wurde penetranter. Es wurde geradezu lästig. Erst kurz vor Morgengrauen schlief er an seinem Schreibtisch völlig erschöpft ein.
Als er wieder aufwachte, konnte er es erst gar nicht glauben. Er bekam keine Luft mehr! Niemand hatte gesagt, dass man dabei ersticken konnte. Seine Nase? Sie war einfach zugeschwollen und sein Hals ebenfalls. Seine Stirn glühte und ihm wurde schwindelig, als er versuchte, vom Schreibtisch aufzustehen. Wahrscheinlich war doch etwas schiefgegangen. Womöglich hatte er den falschen Virus erwischt. So schlimm konnte eine einfache Grippe nun wirklich nicht sein? Sein Hals war dermaßen angeschwollen, dass er kaum schlucken konnte, seine Zunge schien am Gaumen festzukleben. Er bewegte sich auf unsicheren Beinen ins Badezimmer. Dort bemühte er sich sich von dem zähen Schleim, der seine Atemwege bedeckte, zu befreien. Es bestand kaum eine Chance. Sein Kopf dröhnte von der Anstrengung. Jetzt war er sicher, dass er sich eindeutig mit dem schwarzen Tod infiziert hatte.

Mit wild klopfendem Herzen kroch er zurück an den Schreibtisch. Auf allen vieren. Seine Hand fischte nach den Antibiotika. Vorsorglich nahm er gleich drei auf einmal. Auf dem Zettel stand: „Täglich eine.“ Zu spät las er von einem möglichen Erbrechen. Erbrechen! Was zum Teufel meinten die mit Erbrechen? Eine halbe Stunde später wusste Reinhardt, was damit gemeint war. Erbrechen gefiel ihm gar nicht. Darüber hatte er im Zusammenhang mit Ebola gelesen. Seine Erinnerung an das Gelesene war verschwommen. Alles sprach dafür, dass er sich Ebola eingefangen hatte. Sein Hals schien bereits zu bluten. Als er den Schleim ins Waschbecken spuckte, konnte er deutliche Spuren von Blut erkennen. Ihm wurde schwindelig.

Was hatten die früher bloß gegen all diesen Schleim getan? Reinhardt griff nach einem Handtuch und schnäuzte es voll. Wohin damit? In den Müllschlucker. Er nahm sich vorsorglich einige weitere Handtücher aus dem Schrank mit ins Schlafzimmer und verkroch sich in sein Bett. Es war ein Risiko, das hatte er von Anfang an gewusst. Aber nun war er beinahe sicher, dass er der letzte Mensch sein würde, der jemals an einer Grippe, der Pest oder Ebola starb.

Der Schlaf brachte ihm keine echte Erleichterung. Sein Hals war so furchtbar wund und ein einsetzender Husten raubte ihm das letzte bisschen Luft, das ihm noch geblieben war. Als am nächsten Morgen keinerlei Besserung einsetzte, war er endgültig davon überzeugt, dass alles, was in diesen verdammten Büchern stand, gelogen war. Niemand hatte jemals eine Grippe überlebt. Das war völlig ausgeschlossen. Reinhardt versuchte, eine weitere Antibiotika Tablette zu schlucken, aber sie schien einfach nicht durch seinen Hals zu passen. Er hustete und die Tablette flog wieder hinaus. Er hob sie auf und versuchte sie erneut zu schlucken. Sein Schädel platzte unter dem Druck den sein Gehirn erzeugte, während es scheinbar versuchte sich ins Unendliche auszudehnen. Seine Ohren hatten ebenfalls ihre Funktion eingebüßt und seine Augen tränten ununterbrochen. Keine Frage, es ging zu Ende.

Reinhardt beschloss, das Bett nicht mehr zu verlassen. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Er wollte wach bleiben, seine letzten Minuten in diesem Leben auskosten, aber das gelang ihm dann doch nicht.

Am nächsten Morgen waren die Schmerzen in seinem Hals verschwunden. Seine Nase war zwar noch geschwollen und sein Schädel schmerzte gnadenlos, aber der Hals war frei. Sofort schluckte er eine angemessene Ladung Antibiotika. Jedenfalls fand er vier Tabletten durchaus sinnvoll. Und dass, das Erbrechen vorbeiging wusste er inzwischen auch. Egal wie unangenehm es sein mochte es ging vorbei! Gott, sollte es wahr sein, dass er es schaffte! Ein Hoffnungsschimmer regte sich in ihm. Er konnte sogar etwas essen. Seine Stimmung wurde schlagartig besser. Konnte es vielleicht doch sein, dass Menschen so etwas früher ertragen hatten? Sogar mehr als einmal. Und womöglich ohne Medikamente? Er schnäuzte weitere Handtücher voll. Bald waren keine Handtücher mehr im Haus. Wie sollte er Marlies erklären, was mit den ganzen Handtüchern geschehen war? Egal.

Die Symptome schwächten sich auch am nächsten Tag weiter ab. Jetzt nahm Reinhardt seine Notizen wieder auf. Er war überzeugt davon, dass er die letzte Grippe der Menschheit überlebt hatte. Er fühlte sich wie ein Held. Ein Sieger im Kampf gegen das Unfassbare. Der letzte seiner Art. Er würde einen Roman über die Geschehnisse schreiben. Womöglich gäbe es sogar eine Holoproduktion über seinen Kampf gegen den Virus. Mit Happyend natürlich. Ja, er musste es nur noch aufschrieben. Eine Autobiographie: „Die letzte Krankheit auf Erden.“

Endlich gingen ihm die Handtücher aus, aber nun griff er einfach zu alten Kleidungsstücken. Für ihn gab es kein Halten mehr. Er fing an, das erste Kapitel seines Romans zu schreiben. Drei Kapitel schaffte er in zwei Tagen. Dann war er erschöpft. Die Grippe war überstanden. Natürlich musste er noch in seiner Wohnung bleiben. Die Gefahr einer Ansteckung bestand bestimmt noch einige Tage. Aber der Wein schmeckte ihm schon wieder. Reinhardt schaltet seit Tagen mal wieder das COM-Panel an der Wand ein und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Mal sehen, was während seines Todeskampfes sonst noch so in der Welt geschehen war.

„Sport. Maria Adams hatte einen neuen Rekord im Stabhochsprung erreicht. Wirtschaft. Der Wax stand bei 174.080 Punkten. Gut für jeden, der Aktien hatte. Gesundheit.“

Gesundheit? Was war das denn für eine Sparte? Reinhardt konnte sich nicht erinnern, jemals etwas über Gesundheit im Fernsehen gesehen zu haben.
„Die in Europa vereinzelt aufgetretenen Fälle von Grippesymptomen sind auf einen schnell mutierenden Erreger zurückzuführen, der offenbar ein menschliches ID-Gen trägt. Erste Fälle sind nun auch aus Asien und Kanada gemeldet worden.“

Reinhardt schluckte. Sein Hals war auf einen Schlag wieder vertrocknet. Was sollte das? Wovon zum Teufel sprachen die da? Er war der einzige Mensch, der jemals seit der Genetischen Revolution eine Grippe überlebt hatte! Er hatte gerade seine Autobiographie, darüber begonnen.

„Kommentar:“ dröhnte es unbarmherzig aus den unsichtbaren Lautsprechern des COM-Panels. „Seit vor 24 Stunden die ersten Symptome eines längst vergessenen Schreckens der Menschheit aufgetaucht sind, haben sich bis zur Stunde etwa 592 Millionen Menschen mit dem Erreger infiziert. Eine Prognose geht davon aus, dass in weiteren 24 Stunden damit zu rechnen ist, dass etwa 14 Milliarden Menschen von dem Virus überrascht und befallen werden. Die völlige Unkenntnis der Verhaltensregeln bei einer Epidemie begünstigen die rasche weltweite Ausbreitung. Bitte verlassen Sie nicht die Häuser, meiden sie den Kontakt zu Mitmenschen, Tieren und allen Gegenständen, die verseucht sein könnten.“

Reinhardt schoss es wie ein Lichtstrahl ins benebelte Bewusstsein. Die Handtücher! Er hatte die verdammten Handtücher in den Müllschlucker geworfen. Von dort aus waren sie ins Recyclingcenter gelangt und dann … Gar nicht auszudenken, was er da ausgelöst hatte. Die Viren hatten seine Wohnung verlassen!
„Aufgrund des Mangels an Medikamenten gehen erste Schätzungen davon aus, dass die potentielle Sterblichkeitsrate bei 80 bis 95% liegt. Das neu ins Leben gerufene Weltgesundheitsministerium will der Seuche auf zwei Wegen Herr werden. Einerseits wird versucht, ein altes Medikament wieder herzustellen. Antibiotika. Andererseits bereitet man sich darauf vor, möglichst schnell und effizient die zu erwartenden 10-15 Milliarden Leichen zu verbrennen, um weiteren Infektionen vorzubeugen. Der Virus des Stammes A trifft bei heutigen Menschen auf ein völlig untrainiertes Immunsystem, da das T-Rex-Antigen eine echte Immunreaktion bis zum heutigen Tag immer verhindern konnte. Ob eine Laune der Natur oder ein terroristischer Akt ist bis zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt. Wir halten Sie stündlich über den Fortschritt der großen Katastrophe auf dem Laufenden.“
Erst jetzt wurde Reinhardt wirklich klar, was er getan hatte. Er hatte einen Virus mit menschlichem ID-Code freigesetzt. Der Virus mutierte und würde seine genetische Information in allen möglichen Keimen freisetzen. Das erste Mal in der Geschichte der Neuzeit trug eine nichtmenschliche Zelle diesen Code in sich und sie würde ihn weitergeben. Er hatte die Tür aufgestoßen zu allen Krankheiten des Universums. Sie alle würden wiederkehren und diejenigen, die wie er die Grippe überlebten, würden erneut in einer Welt zu Hause sein, in der die Krankheit wieder eine Chance hatte. Nun, wo er wusste, wie es sein würde krank zu sein, war ihm nicht mehr besonders viel daran gelegen. Auch wenn der Titel seines Buches nun umso treffender war, würde er es jetzt wohl besser nicht mehr schreiben.

Reinhardts Versuchung (13) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2006. Alle Rechte vorbehalten.