Dumm gelaufen

Kurzkrimi

Alles schien zu laufen wie geplant. Henry hatte diesen Coup genauestens durchdacht. Die Alarmanlage war überbrückt, der Tresor lag offen vor ihm und darin in kleinen Samtbeuteln portionsgerecht abgepackte Diamanten. Insgesamt für zwei Millionen Dollar. Respektvoll verstaute Henry die kleinen schwarzen Beutel in dem freien Fach seiner ledernen Arbeitstasche. Henry war ein Profi. Und sie hatten ihn noch nie erwischt. Pro Jahr nur zwei gut vorbereitete Brüche, das war sein oberstes Prinzip. Nur nicht gierig werden und schlampen. Für diese reiche Beute bekam er bei dem richtigen Hehler locker 20 Prozent vom Marktwert.

Als er beim letzten Beutel angekommen war, öffnete er ihn kurz und ließ einige der Steinchen in seine Hand rieseln. Ein wunderbares Gefühl war das. Doch dann stutzte Henry. Irgendetwas an diesen Klunkern kam ihm komisch vor. Er zog seine Lupe hervor und prüfte die Steine. Schon mit dem ersten flüchtigen Blick erkannte er, dass sie falsch waren. Es handelte sich um einen ganzen Beutel mit Straß. Beunruhigt zog er die anderen Beutel aus der Tasche hervor.

Alles billige Imitationen! Aber das konnte unmöglich wahr sein. Er hatte diesen Juwelier sorgfältig ausgespäht, hatte sich Proben der Steine unten im Laden zeigen lassen. Da waren sie echt gewesen. Henrys Gedanken flogen von einer möglichen Erklärung zur nächsten. Hier war irgendwas fürchterlich faul. Aber jetzt war nicht die Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Er sollte lieber das Zeug zurück in den Tresor legen und schnellstens verschwinden.

Zu spät. Henrys geschultes Gehör vernahm leise Geräusche hinter sich. Da war jemand. Vorsichtig duckte Henry sich und schlich hinter einen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Kurz darauf sah er sie. Es waren zwei. Sie hatten ähnliche, schwarze Tarnanzüge an wie er selbst. Aber das mussten totale Anfänger sein. Sie hatten nicht einmal ihr Gesicht geschwärzt. Und sie machten viel zu viel Lärm und Licht. Nicht nur, dass die Taschenlampen nicht gedämpft waren, sie mussten auch irgendwo im Nebenraum Licht angemacht haben. Stümper. Das konnte man doch von außen sehen.

Die beiden Gestalten schlichen zum Tresor. Jetzt war Henry sicher, dass hier ein riesiger Versicherungsbetrug im Gange war und der Besitzer sich ausgerechnet heute selber ausräumen ließ. Einer der beiden zog ein Stethoskop aus seiner Tasche und horchte damit das Zahlenschloss ab. Die beiden schauten wohl zu viel Fernsehen. So bekamen die den Safe doch nie auf. Hatten die denn noch nichts vom elektronischen Kontaktdecoder gehört? Henry wurde nervös. Einen Moment dachte er daran sich zu erkennen zu geben und den beiden zu helfen. Je länger die beiden ihn hier aufhielten, umso riskanter wurde die Geschichte für ihn, denn die beiden würden es sicher auch noch schaffen, irgendwie den Alarm auszulösen.

Gerade wollte Henry etwas tun, das er sicher später bedauert hätte, da musste er sehen, dass die beiden den Safe tatsächlich geöffnet hatten. Weiß der Himmel, wie sie das geschafft hatten. Wahrscheinlich hatte der Besitzer ihnen die Kombination verraten. Aber wozu dann dieses Theater mit dem Stethoskop? Henry verstand das alles nicht. Er hockte mit anspannten Muskeln hinter seinem Sessel, bereit jederzeit hervorzuspringen und sich schleunigst aus dem Staub zu machen.

„Wo sind diese verdammten Diamanten?“ fragte nun einer der beiden.

„Keine Ahnung, versteh ich nicht“, kam es von dem anderen ziemlich laut zurück.

„Ist doch egal, seht zu, dass ihr hier verschwindet, dann kann ich auch endlich weg“, dachte Henry, obwohl er es den beiden am liebsten laut zu gerufen hätten.

„Was ist denn los?“ schrie eine Stimme aus dem Raum, den Henry von seinem Platz nicht einsehen konnte.

„Da sind keine Diamanten drin“, rief einer der Einbrecher dem dritten Mann im Halbdunkel zu.

„Schlamperei! Requisite!“ brüllte der unsichtbare Dritte hysterisch los. „Wo zum Teufel sind die Diamanten?“

Hinter Henry regte sich was. Ein ganzer Haufen Leute schien sich dort aufgehalten zu haben. Schnelle Schritte diverser Füße waren zu hören. Überall wurde Licht angeschaltet. Fünf oder mehr Leute kamen aus dem Nebenraum herüber und stritten sich laut über den Verbleib der Diamanten. Dann entdecken sie Henry, der in voller Tarn-Montur aufgestanden war, und irritiert lächelnd hinter dem Sessel stand. In der einen Hand seine Werkzeugtasche, in der anderen die Säckchen mit den falschen Steinen. In die verständnislose Ruhe hinein begann Henry, der als erster alles verstand, hysterisch und unaufhaltsam loszulachen.

Dumm gelaufen (47) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1997. Alle Rechte vorbehalten.