Im „Bricks“ war es voll. Streng genommen übervoll. Es war wie in einer Sardinenbüchse und da war es eigentlich nicht unwahrscheinlich, daß ihm jemand sein Bier über das Hemd kippte. Zufall hingegen war, daß es ein heiterer kleiner Rotschopf war, der so aus dem Häuschen über einen Treffer der deutschen Mannschaft war, daß sie unkontrolliert die Arme hochriß und eine Bierwelle initiierte.
Natürlich entschuldigte sie sich überschwänglich und natürlich gab Jörg ihr ein neues Bier aus, weil es im nationalen Interesse war, daß ihr Glas nun nicht leer blieb. Als Beamter unterlag er nun einmal einer besonderen Treue- und Fürsorgepflicht.
Wie sich herausstellte war Bettina Referendarin in einer Grundschule, teilte seine Vorliebe und Leidenschaft für Vinyl und gute Rotweine. Da war eine Anschlussehe schon fast unvermeidlich. Erst recht nachdem sie ihre Trauer über das Ausscheiden ihrer Mannschaft mit einer spontanen und fruchtbaren Verschmelzung ihrer Genitalien überspielt hatten.
Bettina schien eine lebenslustige Person zu sein, die nach dem ersten Akt nicht einfach aus seinem Leben verschwand, sondern schon aufgrund ihrer ebenso märchenhaften Schwangerschaft, nach kurzer Zeit bei ihm einzog.
Wie gesagt, er war zu besonderer Fürsorge verpflichtet und gedachte sich daran auch zu orientieren. Vermutlich für den Rest seines Lebens. Eigentlich hatte er es gar nicht schlecht getroffen. Bettina war eine gute Köchin und einen Großteil der Schwangerschaft verbrachten sie gemeinsam in der Küche und vor dem Fernseher.
Es wurden allerlei Pläne für die Zukunft des Nachwuchses geschmiedet. Glücklicherweise war man sich einig, daß nur ein Montessori Kindergarten in Frage käme, auch die Frage der Religion war schnell geklärt und überhaupt schien Bettina eine überaus verständige und verantwortungsvolle Person zu sein.
Ihr Referendariat brach sie nur äußerst widerwillig und dem Kind zuliebe ab. Aber so ein kleiner, neuer Erdenbürger erforderte halt eine gehörige Menge Aufmerksamkeit und Zuwendung. Die wollte Bettina ihm mit besonderer Sorgfalt zukommen lassen und damit war Jörg auch grundsätzlich einverstanden.
Das Vaterglück war unerwartet, aber nicht ungelegen gekommen. Früher oder später hatte Jörg sich schon gewünscht Vater zu werden. Nun also früher.
Alles lief gut. Die Geburt problemlos. Ein Junge. Das Glücksgefühl bei seinem Anblick verschlug Jörg beinahe den Atem. Auch, wenn er nicht ganz sicher war, ob er sich jemals wieder mit der Vagina befassen wollte, aus der er herausgekommen war. Aber ansonsten …
Die Probleme, die so ein Kind mit sich brachte gingen sie ganz pragmatisch an. Es erschien Jörg durchaus vernünftig, in der ersten Zeit lieber im Arbeitszimmer zu schlafen, um die Nachtruhe, die für seinen Beruf so dringend nötig war, ungestört ausnutzen zu können.
Die ersten Risse in ihrer Beziehung wurden sichtbar, als Bettina nach einem halben Jahr nicht abstillen wollte. Die persönliche und haptische Bindung an das Kind war ihr nun einmal sehr wichtig. Auch Jörgs Rückkehr ins Schlafzimmer verzögerte sich deshalb und er war nicht ganz sicher, ob das nicht der wahre Grund für die Abneigung gegen das überlange Stillen sein könnte.
Den Vulkan von Vulva hatte inzwischen längst wieder vergessen und nichts mehr dagegen sich dieser Naturgewalt wieder einmal eingehender zu widmen.
Doch daraus wurde nichts. Nein, da verstand Bettina gar keinen Spaß. Die Tür zum Schlafzimmer blieb für ihn zu. Auch, als sie den Jungen endlich abstillte, weil er in die Grundschule kam, blieb die Tür verschlossen. Jetzt waren es die Alpträume, die in diesem Alter naturgemäß häufig auftraten und mit denen sie den Jungen keinesfalls in der Nacht alleine lassen konnte.
Vielleicht hätte Jörg noch etwas ändern können, wenn das Kind wenigstens auffällig gewesen wäre, im Kindergarten oder der Schule, aber das Kind schien sich normal zu entwickeln. Wenngleich es so gut wie keine Kontakte zu Gleichaltrigen pflegte und eher in sich gekehrt zu sein schien.
Vielleicht hätte Jörg das bei einem der Entwicklungsgespräche thematisieren können, aber wie wäre das angekommen? Eigentlich eher belanglose Symptome, die sich jederzeit auf das womöglich gestörte Verhältnis der Eltern zueinander hätten zurückführen lassen können. Da stand es ja nicht zum Besten und darunter sollte so ein Kind aber nun wirklich nicht leiden.
Er selbst hatte Elterngespräche geführt in denen er genau so argumentiert hatte.
Daß der Junge inzwischen 10 Jahre alt war und allabendlich hinter der Tür des Schlafzimmers verschwand, weil er immer noch bei seiner Mutter im Bett schlief, war völlig unverdächtig. Denn manche Kinder vor allem aus Problembeziehungen brauchten halt ein besonderes Maß an Nähe.
Eigentlich führten sie ja auch keine Problembeziehung. Streit gab es so gut wie nie, Jörg unternahm regelmäßig etwas mit seinem Sohn, aber eben alleine. Da lag der Hase im Pfeffer. Die anderen Eltern sahen halt immer nur einen Elternteil mit dem Kind bei irgendwelchen Aktivitäten auftauchen. Die Schlussfolgerung war klar. Da kriselt es. Da hält man sich raus.
Es hatte etwas gedauert, bis Jörg verstanden hatte, daß das eine Strategie war, nie etwas zu dritt zu machen. Es hatte auch gedauert, bis er verstanden hatte, daß Bettina ihren gemeinsamen Sohn ohne Not regelmäßig dazu verpflichtet etwas mit seinem Vater zu unternehmen. Kein Kind tat Dinge gerne, die es machen mußte.
Wenn er lieber mit beiden Eltern etwas unternehmen wollte, ging das immer nicht. Ohne jede Begründung. Überhaupt erkannte Jörg in seinem Eheglück plötzlich die Bedeutung der Begründungslosigkeit. Das war eine Art Catch 22.
Den Vater schlecht machen, wollte Bettina auf keinen Fall, daher blieb es, wann immer es sich anbot, bei der Andeutung möglicher Eheprobleme. Das waren Sätze wie: Ich glaube ich kann im Moment einfach nicht mit ihm gemeinsam in Urlaub fahren. Sonst nichts. Und keiner fragte nach, sonst hätte er womöglich entdeckt, daß all das überhaupt gar keine Grundlage hatte.
Natürlich hatte Jörg überlegt, das Jugendamt um Hilfe zu bitten, aber da er selbst beruflich mit diesen Leuten zu tun hatte, wußte er nur zu gut, daß ein analphabetischer Schulabbrecher in der Regel mehr gesunden Menschenverstand hatte, als ein Mitarbeiter vom allgemeinen sozialen Dienst.
Aus dieser Nummer kam Jörg einfach nicht mehr raus. Es war dieses allabendliche Schließen der Tür hinter sich und dem Jungen, daß ihn aus dem wahren Familienleben ausschloß und ihn zum gefährlichen Aussenseiter werden ließ.
Und dann machte er den Fehler, vielleicht den einzigen. Er hatte zuviel Wein getrunken, was ihn zu der Überlegung verführte, daß er jetzt einfach mal mit der Faust auf den Tischen schlagen müsse, um die Situation zu bereinigen.
Keine gute Idee. In sein eigenes Schlafzimmer einzudringen und darauf zu drängen, daß der Junge nunmehr in seinem eigenen Zimmer schlafen müsse.
Bettina tat so, als ob das eine versuchte Vergewaltigung gewesen wäre, das Kind schrie hysterisch und sie stellte sich sofort schützend vor den Jungen. Egal, ob das jetzt nötig war oder nicht. Auch, wenn Jörg seinen Fehler noch im gleichen Moment erkannte war es zu spät.
Von jetzt an gab es das Narrativ, Vater ist gefährlich, wenn er getrunken hat. Und egal, ob das alle fünf Jahr mal vorkam oder jeden Tag, jeder kannte jemanden, der Alkoholiker war und wußte, wie schlimm das sein konnte.
Damit war er nun endgültig erledigt. Es war nur folgerichtig, daß Bettina ein Sicherheitsschloss in der Schlafzimmertür anbringen ließ und das Kind jetzt erst Recht, jeden Abend in ihrem Bett in Sicherheit brachte.
Es war gar nicht nötig das groß herum zu erzählen, allein die Tatsache, daß Bettina es nötig fand ein Sicherheitsschloss in der Schlafzimmertür installieren zu lassen, ließ die Leute die richtigen Schlüsse und Vermutungen ziehen.
Vor allem mußten die Leute die richtigen Schlüsse ziehen, als Bettina ihm, kurz nach dem 14 Geburtstag seines Sohnes mitteilte, daß sie wieder schwanger war.
„Habt ihr wieder zueinander gefunden? Das ist ja schön, daß sie dir noch mal eine Chance gegeben hat.“
Solche Sätzen folgten gewöhnlich den Glückwünschen ihrer gemeinsamen Bekannten zur Bettinas unerwarteter Schwangerschaft.
Jörg sagte halt: „Ja, es war eine schwere Zeit!“, denn er wußte es hatte keinen Zweck über die Wahrheit zu sprechen.
Und um weit bösere Gedanken zu verdrängen, fand sich Jörg damit ab, daß sie vermutlich fremdgegangen war, denn er hatte ja seit Jahren keinen Verkehr mehr mit ihr gehabt. Irgendwo mußte das Kind ja herkommen und er konnte ja nun wirklich nicht wissen, was hinter einer verschlossenen Tür passierte.
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