Der Obstdieb

Hanne war Gärtnerin durch und durch. Ihren Schrebergarten hatte sie schon seit über 30 Jahren. Es war noch eine der größeren Parzellen. Nicht diese moderne 300qm Varianten mit denen man sich bestenfalls allein versorgen konnte. Sie hatte früher ihre beiden Kinder und ihren Mann mit diesem Schrebergarten durchgebracht und noch heute war sie konsequente Selbstversorgerin. Obst oder Gemüse hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie kaufen müssen. Auf ihren fast 800qm baute sie so gut wie alles selber an. Quitten, Knoblauch, Kohl, Kartoffeln, Zwetschgen, Tomaten, Salat, eben alles, was bei diesem Klima gedieh.

Bis auf Birnen. Da hatte sie selten gute Erträge. Bei den Birnen war es seit zehn Jahren so, dass ihr Nachbar eine große Hecke aus Wachholder angelegt hatte und seitdem hatte sie den Birnengitterrost im Gehege. Aber mit diesem Blödmann war ja nicht zu reden. Der baute auch kaum etwas an. Nur Rasen und einige Büsche. Aber immer am Basteln an seiner Laube. Kein Gärtner im eigentlichen Sinne.

Seit Volkers Tod lebte Hanne beinahe in ihrem Schrebergarten. Klar war das nicht erlaubt. Aber seit sie allein lebte, wohnte sie in einer viel zu engen 2 Zimmerwohnung, in der sie sich eigentlich selten länger als 3 Tage am Stück aufhalten konnte, ohne das Gefühl zu haben darin zu ersticken. Sie brauchte die Arbeit an der frischen Luft. In der Wohnung hocken war nicht ihr Ding. Also war sie auch im Winter fast jeden Tag in ihrem Garten.

Hanne schaute nach den Johannisbeeren. Die waren noch nicht reif. Aber dafür die Erdbeeren. Sie fing an zu pflücken. Jedenfalls hätte sie das, wenn sie welche gefunden hätte, die reif waren. Vorgestern waren es noch so viele fast reife gewesen. Die mussten heute eigentlich gut sein. Aber so sehr sie auch die Blätter durchwühlte, wirklich reife Früchte waren nicht mehr zu entdecken.
Leicht verärgert setzte sich Hanne auf die Bank und nippte an ihrem Kaffee, zu dem sie jetzt gern etwas frisches Obst genascht hätte.

Hanne grübelte. Wo um alles in der Welt waren ihre Erdbeeren? Sie hatte sechs Reihen a 63 mal 141, weil sie Erdbeeren so gerne. Und was die Anlage gerader und gleichmäßiger Pflanzreihen anging, konnte Hanne sehr penibel sein.

Die Schnecken? Nein, die nahmen sich immer nur einen bescheidenen Anteil und außerdem fraßen sie die Früchte auch schon grün an. Vermutlich stahl hier jemand ihr Obst. Das war in all den Jahren noch nie vorgekommen.

Wer sollte denn wohl ihr Obst stehlen. Hanne beschloss der Sache auf den Grund zu gehen. Sie suchte noch mal ihr Beet ab und steckte kleine Hölzchen an die Pflanzen, wo die Beeren in den nächsten Tagen reif werden mussten. Wenn hier jemand Obst stahl, bekäme sie das heraus.

*

Als Hanne vier Tage später nach den Erdbeeren sah blieb ihr fast die Spucke weg. An den Pflanzen mit den Hölzchen waren kaum noch Früchte und wenn, nur völlig unreife. Das ganze Beet war regelrecht geplündert. Und als ob das noch nicht genug war, sah sie nun auch bei den Johannis- und Stachelbeeren lauter leere Rispen und Fruchtstiele. Offenbar hatte es jemand auf ihr Obst abgesehen.

Was nun? Hanne war kreative Herausforderungen gewöhnt. Hanne war Gärtnerin, durch und durch. Sie überlegte nicht lange und suchte sich die alten Mausfallen zusammen. Wenn sie den Dieb nicht fassen könnte, dann würde sie ihm wenigstens eine Lektion erteilen. Eine schmerzhafte Lektion, soviel war sicher.

Unter die Pflanzen mit den nächsten reifen Früchten schob sie die gespannten Mausefallen. Die Fallen waren von den Blättern gut getarnt und wenn jemand die Blätter nach reifen Früchten suchend umdrehte, würde er früher oder später in eine der Fallen greifen.

Hanne war es gewohnt eher innerlich zu lachen. Wahrscheinlich, weil sie eh immer allein war und lautes Lachen deshalb nicht wirklich Sinn machte. Aber jetzt gurgelte es doch leise aber hörbar in ihrer Kehle. Sie sah das Gesicht des Obstdiebes vor sich, das Ähnlichkeit mit einem alten RAF Fahndungsfoto hatte und den verblüfften Ausdruck in seinen schwarz-weißen Zügen, wenn er die aufgeplatzt Haut auf seinem Handrücken betrachtete.

Wahrscheinlich würde es einige Sekunden dauern, bis dem Dieb ein verhaltener Schmerzensschrei entfuhr. Hanne stellte sich vor, dass es dauern würde bis er sein Blut von den zermantschten Erdbeeren unterscheiden konnte. Aber dann würde ihm klar werden, dass der halbe rote Matsch von seinen Fingern und nicht von den Erdbeeren war.

Eigentlich war Hanne nicht besonders gewalttätig oder aggressiv, aber beim Obstdiebstahl verstand sie keinen Spaß. Dazu kam noch, dass jemand offenbar in ihr Heiligtum, ihren Garten eingedrungen war. Und das kam schon fast einer Vergewaltigung gleich.

Hanne überlegte, ob sie noch weitere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen müsste, aber ein gut platziertes Küchenmesser war zur Verteidigung ihres Eigentums und ihrer Ehre wohl ausreichend.

*

Fünf Tage lang passierte nichts, jedenfalls nichts, was Hanne bemerkt hätte. Aber bei der Kontrolle der Fallen stellte Hanne bald fest: Eine war ausgelöst worden und eine andere war verschwunden. Offenbar hatte der Dieb sie bei seiner Flucht mitgenommen. Gut, sie wusste zwar immer noch nicht, wer der Dieb war, aber wahrscheinlich hatte sie ihm eine ordentliche Lektion erteilt. Insoweit war sie zufrieden. Doch die Fallen positionierte sie vorsorglich neu. Man wusste nie, wie dumm oder dreist so ein Dieb war. Und sicher war sicher.

*

Am nächsten Tag wartete im Garten eine böse Überraschung auf Hanne. Ihre Beet mit Frühkartoffeln war völlig verwüstet und die Knollen offenbar ausgegraben. Hanne stand steif und reglos vor dem Beet. Sie fröstelte. Das waren ernste Anzeichen eines Schocks. Sie wusste nicht genau, ob sie jetzt Angst hatte oder einfach nur wütend war. Sie war verunsichert. Auch nach 15 Minuten stand sie immer noch da und schaute auf das Kartoffelfiasko.

„Alles in Ordnung?“, fragte eine Stimme von irgendwo hinter ihr. Hanne zuckte heftig zusammen. Instinktiv fragte sie sich, wo sie eigentlich das Küchenmesser bereit gelegt hatte.

Aber alles war gut. Es war nur ihr nerviger Nachbar. Den hatte sie seit drei Wochen nicht mehr gesehen und nun stand er hinter ihr am Zaun und schaute neugierig über seine Buchshecke. Hanne starrte ihn entgeistert an. Er winkte freundlich mit der Hand und rief nochmals: "Hallo, alles in Ordnung?"

Hanne nickte sprachlos. Im Unterbewusstsein hatte sie den Verband an seiner Hand aber sehr wohl registriert.

„Alles gut“, stammelte sie tief in Gedanken. Dieser Verband. Ihr Nachbar nickte nochmals, drehte sich um und verschwand in seiner Laube.

Was wusste sie eigentlich über ihren Nachbarn? Er war Pensionär. Früher bei der Polizei, gewöhnlich tauschte er zweimal die Woche seinen Rollator gegen den Rasenmäher ein, ansonsten war er selten einmal zu sehen. Seit etwa zehn Jahren hatte er seinen Garten und war wohl unverheiratet. Aber warum sollte er nun plötzlich anfangen ihr Obst zu klauen? Die Frage, warum seine Hand verbunden war, hatte sich Hanne längst beantwortet.

Wie betäubt ging Hanne in ihre Laube und setzte einen Kaffee auf. Als sie den heißen Becher an den Mund führte, konnte sie sich nicht erinnern, wie sie den Kaffee eigentlich gemacht hatte, so sehr rotierte ihr Denkapparat.

Sie setzte sich in den Freisitz und wartete. Sie wartete auf ihren Nachbarn und auf eine Eingebung was sie tun könnte.

Zwei Stunden und ein Rasenmähen später winkte ihr Nachbar zum Abschied nochmal herüber und ließ sie mit ihren Planspielen allein. Soviel war klar, ein 24qm Kartoffelbeet war kein Mundraub. Also wenn ihr Nachbar die Kartoffeln geklaut hätte, dann müsste er sie auch irgendwo gelagert haben. Vermutlich in der Laube, oder? Bei Hanne war das so: Sie merkte immer erst, dass sie einen Plan hatte, wenn sie sich bei den Vorbereitungen zur Ausführung erwischte. Und nun stellte sie fest, dass sie auf der Suche nach einem Brecheisen war.

Warum sie jetzt an der Grenze zum Nachbargrundstück stand und grübelte war nicht nachvollziehbar, denn sie hätte eigentlich längst wissen müssen, dass der Einbruch in die Nachbarlaube unvermeidlich war.

Der einzige, der sie sah, als sie die Hecke überstieg und sich eine Laufmasche in den Nylonstrümpfe zuzog, war der Mäusebussard 30 Meter über ihr, der sich aber wohl nicht wirklich für ihr Tun interessierte. Sie ging aufmerksam lauschend auf die Laube ihres Nachbarn zu. Auch das knatschende Geräusch, als sie dessen Vorhängeschloss aufhebelte und sich Schrauben aus dem Holz quälten, beunruhigte wohl niemanden wirklich.

Drinnen in der Laube war es trotz Tageslicht einigermaßen düster. Nichts Interessantes. Ein leicht muffiges Sofa, ein schäbiger mit Kacheln beklebter Tisch, ein Eisengitterbett, dass seine Glanzzeiten lange hinter sich hatte und eine schwer versiffte Küchenzeile, das war alles. Von den Kartoffeln keine Spur.

Hanne war enttäuscht und vor allem genervt. Wenn das rauskam, dass sie hier eingebrochen war, dann war sie ihren Garten los. Und das war dann noch ihr geringstes Problem. Landfriedensbruch, Einbruch und dazu ein ernster Verstoß gegen die Gartenordnung. Hanne wollte schon wieder gehen und möglichst schnell da Nachbargrundstück verlassen, da hörte sie die Maus. Vielleicht war es auch ein Marder. Es war jedenfalls ein leichtes kratzendes Geräusch, für das sich der Mäusebussard normalerweise mehr interessiert hätte als sie.

Das Geräusch kam irgendwo aus dem Unterboden, wahrscheinlich war ein Tier unter den Fundamentbalken her gelaufen. Was Hanne aber inne halten ließ, war die Tatsache, dass ihr Blick mechanisch auf den Boden gefallen war und sie glaubte unter dem Läufer die Umrisse einer Bodenklappe wahrgenommen zu haben. Die ganz alten Lauben hatten manchmal eine Art Kühlgrube unter dem Fundament und vielleicht war hier so eine. Hanne beschloss nachzusehen.

Tatsächlich befand sich unter dem Läufer eine Falltür und Hanne sah schon eine gut gefüllte Kartoffelgrube vor sich, als sie die Bodenplatte anhob.

Aber sie wurde enttäuscht. Licht strahlte ihr entgegen und von einer Kühlgrube konnte man hier wirklich nicht sprechen. Eine gut beleuchtete Treppe führte hinab in die Tiefe. Sie bemerkte, dass sie außer dem Brecheisen besser auch das Messer mitgenommen hätte, denn ihr war ziemlich mulmig, als zaghaft die hölzerne Treppe hinabstieg. Sie war noch nicht ganz unten, da spürte sie einen schweren Schlag an ihre Schulter. Jemand hatte hinter der Treppe auf sie gelauert und schrie sie gellend an, während er mit Fäusten auf sie einschlug.

Jahrelanges Umgraben hatten allerdings ihre Spuren hinterlassen. Hanne hatte Kraft in den Armen, ihre Muskeln hatten die Ausdauer und die Dynamik einer hydraulischen Presse. Wer auch immer sie angegriffen hatte, sie zog ihn um sich herum und drückte ihn beinahe widerstandslos zu Boden. Zu allem bereit starrte sie in die weit aufgerissenen und angsterfüllten Augen einer jungen, völlig verwahrlosten Frau.

Ihre Haare hatten wohl vor Wochen das letzte Mal Wasser gesehen und ihre Haut hatte nicht die geringste Chance jemals eine Allergie gegen Seifen zu entwickeln. Fast hätte Hanne sie vor Abscheu wieder losgelassen. Aber sie spürte noch immer die Gefahr in den Knochen und starrte einfach fassungslos in das angstverzerrte Gesicht unter ihr. Die großen, grünen Augen, waren weit aufgerissen und schrieen: „Helfen! Mir!“

Hanne überlegte nicht lange, ob es die Augen waren, die zu ihr sprachen, oder sie diese Worte tatsächlich gehört hatte. Sie sah sich um. An Wänden prangten Poster von nackten Frauen, eine Matratze lag in der Ecke gegenüber von ihren Kartoffeln. Ein Blechtopf und ein Gasbrenner standen auf dem Boden. Ihr Blick wanderte zurück zu der Frau unter ihr. Sie trug ein stark verschmutztes Babydoll und nichts an den Füßen.

„Helfen“, hörte sie noch mal, während sie die Frau losließ und sich aufrappelte. Hanne konnte nicht gut sagen, was sie dachte, aber die Dinge waren ihr trotzdem irgendwie klar. Sie wollte aufstehen, aber ein schwerer Schlag auf den Rücken ließ sie wieder vorwärts auf die schmutzige Frau fallen.

"Das hättest du Schlampe besser nicht gemacht!"

Hanne rollte sich über die Schulter von der Frau ab und sah ihren Nachbarn mit der Schaufel ausholend über ihr.

Sie wich dem Schlag aus. Sie hatte aufgehört zu denken und rappelte sich auf. Ihr Nachbar holte in dem doch recht niedrigen Kellergewölbe erneut mit der Schaufel aus. Aber in diesem Moment stürzte sich Hanne auf ihn und hielt seinen Arm fest. Er hätte sich besser mal ein Gemüsebeet angelegt. So jedenfalls hatte der alte Mann keine Chance gegen Hanne. Sie hatte ihn umgerissen und zu Boden gedrückt. Ihre hydraulischen Arme fixierten ihn dort und ließen ihm keine Chance zu entkommen. Jeder Gedanke an Flucht war ohnehin obsolet, als sich Hannes Brecheisen in seinen Hals bohrte und von der schmutzigen Frau unablässig hin und her gedreht wurde, bis sich der Boden von seinem Blut beinahe gesättigt hatte. Die gurgelnden Geräusche waren längst verstummt, als die fremde Frau noch mit dem Brecheisen in seinem Hals herumrührte. Hanne legte ihr vorsichtig die Hand auf den Arm und bedeutete ihr damit aufzuhören.

Der Gartenfreund auf dem Boden war eindeutig tot. Die Frau atmete heftig und sah Hanne fragend an. Alles, was sie wissen musste erzählte ihr die Frau in recht gerochenem Deutsch. Sie war aus Litauen. Ihr Nachbar hatte sie hier unten im Keller eingesperrt und wie eine Sklavin gehalten. Einzelheiten wollte Hanne nun wirklich nicht wissen. Die Pornobilder an der Wand sagten ihr genug. Und das ging seit fünf Jahren so. Aber in den letzten drei Wochen war ihr Nachbar nicht gekommen. Die Frau hatte nichts zu essen gehabt und hatte sich einen Tunnel unter dem Fundament gegraben. Dann war sie rüber in Hannes Paradies und hatte geerntet, was zu finden war, um wenigstens zu überleben. Wie sich rausstellte war ihr Nachbar die letzten drei Wochen im Krankenhaus gewesen und die Frau hatte außer ihrem Babydoll, den Strapsen und einem Parr 11cm Pumps nichts anzuziehen. Sie hatte keine Papiere, kannte niemanden und war diesem perversen Schwein die ganze Zeit über ausgeliefert gewesen.

Hanne hatte zugehört, aber ihr Gehirn sicherheitshalber abgeschaltet. Ihre Entscheidung war längst gefallen. Die Leiche stopfte sie zusammen mit der Frau in den Tunnel, der aus dem Kellner irgendwo in den Garten führte. Dann verschlossen sie die Eingänge mit Erde und Hanne versorgte die entzündete Hand der Frau, wo die Mäusefalle ihre Spuren hinterlassen hatte. Sie erklärte der Lettin, dass sie sich jederzeit in ihrem Garten bedienen könnte. Im Garten war genug Obst und Gemüse für eine ganze Familie.

Außerdem erklärte sie ihr, dass ohne Leiche keine Kündigung des Gartens zugestellt werden könnte und sie in diesem Garten mindesten 3 bis 5 Jahre leben könnte, bis das auffiele. Ein paar neue Klamotten würde sie ihr auch besorgen und ganz ehrlich, diesen Schweinenachbarn hatte es so weit es sie betraf nie gegeben. Bei Gelegenheit würden sie gemeinsam den Keller zurück bauen und niemand würde jemals von dieser Sache erfahren. Hanne versprach es ihr und sie war sicher, dass sich aus dieser Geschichte eine lange und wirklich freundschaftliche verbundene Nachbarschaft ergeben würde. Im Schrebergarten war man schließlich wie in einer großen Familie, oder?

Der Obstdieb (31) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2011. Alle Rechte vorbehalten.