Die Gartenfreundin

Kaum, dass der Frühling eingezogen war, begann für Friedrich wieder das Leben in seinem geliebten Kleingarten. Das war für ihn das eigentliche Leben. Das andere war nur die Zwischenzeit, eben zwischen der letzten Saison und der nächsten. Es war nicht nur die frische Luft, die Pflanzen, die Ruhe und der Platz an der Sonne, nein, es waren vor allem auch die Nachbarn. Insbesondere die eine. Seine Nachbarin. Die zur Rechten. Waltraud. Seit drei Jahren verwitwet. Seit drei Jahren auf seine Hilfe beim Schneiden der Obstbäume, beim Reparieren der Laube und bei einigem anderen Dingen angewiesen. Waltrauds Mann hatte ja keine Ahnung, was er für einen Schatz an Frau sein eigen genannt hatte.

In diesem Jahr hatte er Waltraud überhaupt noch nicht gesehen, aber der Termin des Wasseranstellens war immer der Stichtag. An diesem Tag musste jeder Gärtner anwesend sein, um seine Steigleitung und seinen Wasseranschluss auf mögliche Schäden zu prüfen.

Friedrich schaute über den Zaun. Noch tat sich nichts in Waltrauds Garten. Das war ungewöhnlich. In den letzten Jahren hatte Waltraud sich meist schon früh morgens bei ihm gemeldet, damit er ihre Leitung im Auge behielt.
Und immer hatte sich sie einen frischen Napfkuchen dabei, weil sie wusste, dass er den so gerne mochte. Den Kuchen hatten sie dann am späten Nachmittag, mit einem Becher frischen Kaffees, gemeinsam genossen. Doch in diesem Jahr ...

Friedrich wurde allmählich nervös. Für dieses Jahr hatte er sich fest vorgenommen, Waltraud nicht nur als Nachbarin zur Hand zu gehen. Er hatte es auf ihre Hand an sich abgesehen. Dieses Jahr, da war er sich sicher, würde er sie fragen. Hielte er um ihre Hand an.

Gut, er war jetzt nicht die absolut beste Partie. Es hatten sich bereits einige Getreidesorten knapp oberhalb seiner Hüften zu einem beachtlichen Lipidvorkommen angehäuft. Auch seine Haarpracht war inzwischen einer unfreiwilligen Tonsur gewichen. Trotzdem war er noch ein akzeptabler, und vor allem ganzer Kerl. Jedenfalls seiner Meinung nach.

*

Die ersten Leitungsstränge waren bereits angeschlossen, als Friedrich endlich das vertraute Knarren von Waltrauds maroder Gartenpforte hörte. Friedrich ließ seinen Wasserhahn nicht aus dem Augen, aber linste mit dem zweiten Auge über die Buchsbaumhecke hinweg in Waltrauds Garten.

Ja, da war jemand. Aber das war nicht Waltraud. Es war ein Mann im mittleren Alter. Ein Mann, der noch alle Haare hatte, der seine Kalorien offenbar verbrannte, statt sie anzusparen, um damit ein wenig zu wuchern.
Friedrich warf einen misstrauischen Blick auf den Kerl. Er schien sich auszukennen und ging ohne Umschweife zu Waltrauds Steigleitung.

Friedrichs Herz setzte genau einen Schlag aus. Er hatte es versiebt. Waltraud hatte ihren Garten abgegeben. Vielleicht hatte er sie nicht genug unterstützt. Bestimmt schaffte sie all die Arbeit allein einfach nicht mehr! Vielleicht hätte er ... Vielleicht... Ach Scheiß, wie konnte sie ihm das antun? Sie hätte doch wissen müssen, dass er ihr einen Antrag machen wollte. Er hatte doch so gut wie Alles für Sie ...

Waltraud trug ungewohnt hohe Schuhe. Und nicht nur das. Sie trug ein braunes Kostüm und eine weiße Bluse. Eine weiße, eher schon durchsichtige Bluse. Der Rock war so eng, dass Friedrich selbst auf diese Entfernung und ohne Brille, die Clips ihrer Strumpfhalter erahnen konnte. Sie war ... perfekt! Aber, verdammt, was tat sie da?

Waltraud trug den Napfkuchen geradewegs in ihre Laube.

„Ist noch nicht an“, hörte Friedrich den unbekannten Mann sagen.

Ist noch nicht an? Natürlich war das Wasser noch nicht angestellt. Das hätte Friedrich ihr auch sagen können. Das war doch keine Kunst. Friedrich reagiert spontan mit Eifersucht. Die wurde auch nicht dadurch gemindert, dass der fremde Mann und seine Waltraud sich auf halbem Wege trafen und küssten. Auf den Mund. Nicht ganz ohne Leidenschaft. Nicht ohne ...

Gott verdammt, was war hier los? Wer war dieser Kerl? Das war seine Gartenfreundin! Schon immer! Was wollte dieser Wicht von seiner Waltraud?

Das alles und noch viel mehr schoss Friedrich durch den Kopf, während das Wasser, das gleichzeitig aus dem schon offenen Hahn schoss, bemüht war sein Hirn wieder auf Normaltemperatur herunter zu kühlen.
„Hey, das Wasser!“ hörte Friedrich aus dem anderen Garten. „Sie müssen das Ventil schließen!“

Es dauerte einen Moment, bis Friedrich begriff, dass der Schnösel ihm gerade Tipps in Sachen Kleingarten gab. Friedrich war seit 18 Jahren in diesem Gartenverein. Er hätte dem guten Mann schon eine passende Antwort gegeben, wenn ihm nicht permanent Wasser ins Gesicht gespritzt hätte. Kein Applaus für Podmanitzki! Friedrich bemühte sich seinen Wasserhahn dicht zu kriegen.

Waltrauds helles Lachen klingelt wohlvertraut in seinen Ohren. Aber heute klang es nicht so wohlwollend, wie er es in Erinnerung hatte.

„Hallo Friedrich! Ist ja ein feuchter Saisonstart, was?!“

Friedrich hätte ihr gerne etwas gesagt, aber er war sprachlos. Und wenn die Worte herausbekommen hätte, dann wäre seine Antwort wohl nicht ganz jugendfrei gewesen. Von wegen feuchter Saisonstart und so.
„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte der Schnösel freundlich.

„Geht schon“, brummte Friedrich zurück. „Geht schon. Hab halt den Hahn nicht zu gehabt.“

„Hier!“ rief Waltraud. „Napfkuchen!“

Waltraud hielt ihm einen Teller mit einem Stück Kuchen und ein Geschirrhandtuch über den Zaun.

„Danke!“

Notdürftig hatte Friedrich sich das Gesicht abgetrocknet. Er war immer noch klitschnass und stand wie belämmert, mit einem Stück Kuchen in der Hand, da. Er war verwirrt und unglücklich. Das war es doch nicht, worum es ihm gegangen war. Nicht um den Kuchen.

„Vielen Dank“, sagte er noch mal und schaute der fröhlichen Waltraud auf ihre Frühjahrs gemäß hervorgeschnellten Triebspitzen. Die hatten ihn schon immer fasziniert, doch er war ihr wohl nie ferner gewesen, als in diesem Moment.

Naiv stellte Waltraud ihm ihren neuen „Bekannten“ vor. Frank soundso. Frank war Sozialarbeiter. Beim Jugendamt. Frank war ...

Scheiße, dachte Friedrich. Jetzt hat sie sich ein Schlaffi geschnappt. Das war, weil er auch immer so unentschlossen war. Das war schon immer sein Fehler. Nun ist sie weg ...

*

Und sie war weg. Sie war sogar weit weg. Sie war diesem Sozialfuzzi ja förmlich verfallen. Allein sah Friedrich seine geliebte Waltraud in den nächsten Wochen überhaupt nicht mehr. Immer schwänzelte dieser Frank um sie herum. Und sie, sie hatte sich total verändert. Gut es gefiel ihm, dass sie jetzt noch mehr Wert auf ihr Äußeres legt. Wenn sie da in ihren engen Röcken gebückt die Rosen schnitt, das war schon prächtiger Anblick.

Schon früher war sie ein echter Wonneproppen, aber nun trug sie beim Jäten auch noch halterlose Strümpfe unter ihrem Kittel. Friedrich konnte das deutlich sehen, wenn Waltraud da drüben im Beet wühlte und der Kittel beim Bücken den Rand der Nylons freigab. Dagegen war ja im Prinzip auch nichts zu sagen und sie sah ja auch, der Buchsbaumhecke sei Dank, nicht, wie sehr ihn dieser Anblick beschäftigte. Doch sie tat das ja Alles nicht für ihn. Sie tat es für einen erheblich jüngeren Mann. Für einen, der sie sich geschnappt hatte, als Friedrich noch gar nicht in die Saison gestartet war. Friedrich hasste Frank dafür.

Jedenfalls hasste er Frank bis zu dem Tag, als er spät abends noch einmal nachschauen gegangen war, ob er sein Spielhäuschen auch abgeschlossen hatte. Seit diesem Tag hasste er Frank nicht mehr. An diesem Tag wurde ihm klar, dass er Frank umbringen musste.

Im ersten Moment war er nicht ganz sicher gewesen, ob Waltraud Hilfe brauchte. Es waren diese Geräusche, die er hörte, als er gerade seine Laube verlassen hatte, die ihn verunsicherten. Er interpretierte das „Nein“ wohl fälschlicherweise als Aussage. Friedrich war zur Buchsbaumhecke geeilt und starrte hinüber in die Dämmerung. Waltraud hockte noch in der Arbeitskleidung mitten auf ihrem 3 bis 4 Zentimeter hohen Rasen und wiederholte halblaut ihr „Nein“. Aber es war mehr wie ein sprachliches Mandala, als ein ernsthaftes Hilfsbegehren.

Bevor Friedrich die Peinlichkeit des Jahrhunderts begehen und seine Hilfe anbieten konnte, bemerkte er den Oberkörper und das Paar Beine, das unter ihrem Kittel hervorschauen. Waltrauds Hüfte schob sich vor und zurück, ganz so, als ob sie das Unkraut mit der Hüfte aus dem Rasen hacken wollte.

Friedrich blieb die Luft weg. Er schwankte zwischen dem Wunsch, dort drüben auf dem Rasen zu liegen und selbst mit seinem Gesicht den Mutterboden zu durchfurchen und dem Drang, den Grund für dieses sich ewig wiederholende Nein, unverzüglich zu eliminieren.

Nachdem sich seine Augen an die mangelhaften Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er deutlich sah, wie Waltrauds Oberschenkel ohrenklatschend im Takte ihres Neins kontrahierten und ihre Hinterbacken schleifend und kreisend den Sauzahn im Antlitzes ihrer Unterlage bearbeiteten, blieb Friedrich eigentlich keine andere Wahl, als sich im Schutz der Hecke schweigend seiner wutgestärkten Hormone zu entledigen.

*

Es waren keine zwei Tage vergangen, als Frank beim Rasenmähen freundlich herübergrüßte. Das war sicherlich nett gemeint, aber Friedrich hatte absolut nichts übrig für diesen Witwenpinochio. Er konzentrierte sich darauf, sein Beet für den Winterkohl umzugraben. Der Spaten fühlte sich gut an, in seiner Hand. Er winkte rüber. Doch Frank hörte nichts. Er winkte nochmals und Frank schaltet den Mäher aus und kam an den Zaun.

Es war ein ganz neuer Spaten und er lag gut in der Hand. Das hätte Friedrich dem Frank gerne erklärt, aber er war sicher, dass Frank das selber merkte, weil das Spatenblatt so butterweich den Frontlappen seines Hirns durchschlug, dass ein Kenner von Gartenwerkzeugen sicherlich seine Bewunderung darüber nicht hätte verhehlen können. Der Frontallappen war eine Sache, das saubere Spalten der linken und rechten Hemisphäre eine andere. Blut floss wenig und man konnte es schließlich einfach umgraben. Schwerer, weil tiefer, war es schon, das Pflanzloch für diesen Hirni zu graben. Wobei Friedrich natürlich hoffte, dass diese Saat niemals aufgehen würde.


Waltraud verstand die Welt nicht mehr. Sie war so glücklich gewesen mit Frank. Und dann war er einfach so verschwunden. Ohne ein Wort. Sie begriff einfach nicht, was sie falsch gemacht haben könnte. Aber sie machte sich schwere Vorwürfe. Obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, warum. Sie verstand das alles nicht. Männer! Die waren doch alle gleich! Selbst, wenn man sie noch so sehr liebte, ließen sie einen irgendwann einfach im Stich.

Friedrich tröstete sie, so gut er konnte. Aber was Kerlen, wie diesem Frank, so durch den Kopf ging, wusste er natürlich auch nicht.

Was er aber wusste war: Die nächste Saison kam bestimmt. Und in der nächsten Saison würde er Waltraud einen Antrag machen.

Ganz bestimmt!

Die Gartenfreundin (18) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2011. Alle Rechte vorbehalten.