Trick or Treat

Eigentlich war die Idee mit Halloween ganz richtig gewesen. Aber inzwischen schwitzte Manfred am ganzen Körper. Das mit dem ewigen Klingeln hätte man jetzt als echten Nachteil dieser Idee werten können. Wenn man kleinlich war jedenfalls.

Bei jedem Klingeln zuckte Manfred schreckhaft zusammen. Er wusste, dass es Kinder waren, die nach Süßigkeiten verlangten, aber trotzdem war Manfred jedes Mal nicht darauf gefasst. Er hatte keinerlei Vorstellung, wer hier sonst hätte klingeln können, aber trotzdem hatte er immer wieder ein wenig Angst.

„Ruhig!“ fuhr er Sabine an. Immer, wenn es klingelt. Also auch diesmal.

„Ganz ruhig“, drohte er zischend und fuchtelte wild mit der Kanone rum. Er hoffte das machte Eindruck auf sie, auch wenn die Waffe ungeladen war.

„Trick or treat“, forderte ein Darth Vader vor der Tür. Gott sei Dank hatte Sabine an ausreichend Süßigkeiten gedacht und sie gleich neben der Tür bereitgestellt.

„Seid ihr nicht ein bisschen alt für so was?“ fragte Manfred verblüfft.

Vor ihm standen schließlich drei ausgewachsene Männer, jedenfalls, wenn man der Statur nach urteilte.

„Das glaube ich nicht“, behauptete Frank Zappa, der sicherlich nie im Leben einen derart gebräunten Teint gehabt hatte. Wie auch, wenn er fast ausschließlich in seiner Küche lebte?

„Also, ich finde ihr seid zu alt für Süßigkeiten.“

„Kann schon sein“, gab Präsident Nixon zu. „Aber du hast ja sicherlich noch mehr zu bieten.“

Manfred verstand nicht was der Mann meinte. Dann sah er die 38er in der Hand von Darth Vader.

„Ich bin ein Räuber“, sagte Darth Vader mithilfe eines Sprachverzerrers, der bestimmt zum Kostüm gehörte.

Die drei Männer lachten und schoben den verblüfften Manfred zurück in den Flur. Sekunden später standen sie in der Wohnung und hatten die Tür hinter sich geschlossen.

„Die Wertsachen bitte!“ erklärte Zappa in erwartungsgemäß höflichem Ton.

Waren die bekloppt? Die konnten doch nicht Halloween maskiert durch die Gegend latschen und Leute überfallen? Wer hatte denn schon so was gehört?

„Das ist jetzt aber ein ganz ungünstiger Zeitpunkt“, versuchte Manfred den Maskierten zu erklären, während die ihn weiter ins Wohnzimmer schoben.

„Was soll das denn?“ fragte Nixon irritiert. Er zeigte auf die gefesselte Sabine, die in ihrem Mieder, mit den Lockenwicklern im Haar auf dem Sofa saß und entsetzt schaute.

„Wie soll ich sagen? Also wir haben hier selber eine Kleinigkeit am Laufen!“ erklärte Manfred.

Die drei Räuber sahen sich nervös nach allen Seiten um.

„Wer ist wir? Und was läuft hier“, wollte Darth Vader blechern und kaum verständlich wissen.

Manfred überlegte noch, was er jetzt antworten sollte, da hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloss der Wohnungstür gesteckt wurde.

Die drei bösen Jungs waren schlagartig hellwach und richteten ihre Waffen auf den Eingangsbereich.

„Wir haben die Juwelen!“ rief Hannes freudig erregt und hielt einen Beutel hoch. Seine Züge erstarrten allerdings beim Anblick von Darth Vader.

„Was ist das denn ...?“

„Lass die Flossen ruhig oben!“ forderte Nixon.

Hinter Hannes tauchte Sabines Mann in der Tür zum Wohnzimmer auf. Er hatte den Safe in seinem Juweliergeschäft nur deshalb für Hannes geöffnet, weil er seine Frau in Gefahr wusste.

„Ich weiß zwar nicht, was hier läuft, aber ich denke wir haben den Jackpot geknackt“, stellte Zappa fest. „Wenn ich das richtig deute, ist der Beutel da voller Schmuck, richtig? Und das reicht locker, um nach Montana zu ziehen, richtig?“

Hannes nickte nur verbittert.

„Dann darf ich jetzt wohl um die Ware bitten“, forderte Zappa respektvoll.

Darth Vader verlieh der Forderung durch ein schepperndes „Na, los!“ ein wenig mehr Nachdruck und wies auf die möglichen Konsequenzen mit seiner Pistole hin.

Dem Juwelier war es natürlich egal, wer ihn ausraubte, Hauptsache er bekam seine Frau gesund wieder. Die Lage war insofern eindeutig.

Bis auf: Das Klingeln.

Es erging den drei Verbrechern nicht anders, als Manfred vorhin. Sie alle zuckten zusammen und waren einen Moment unaufmerksam.

Was Hannes anging, war das ein Fehler. Hannes hatte ein blitzschnelles Reaktionsvermögen. Sein langjähriges Karatetraining zahlte sich jetzt aus. Darth Vader kam nicht dazu die Schläge irgendwie abzuwehren und Manfred hatte sich verzweifelt auf Nixon gestürzt.

Irgendwie hatten sie sich verzählt. Warum sollte der Juwelier auch eingreifen? Also stand Zappa völlig unbehelligt, da, die Waffe im Anschlag und zielte auf Hannes Kopf.

Darth Vader war fertig, Manfred hatte Nixon gut im Schwitzkasten und nun schauten alle auf Zappa und Lauf seiner 38er.

Aber Zappa schoss nicht.

„Die haben auch keine Munition“, rief Manfred, der heil froh war, dass Hannes nicht schon tot vor ihm in seinem Blut lag.

Damit sah die Sache natürlich ganz anders aus. Hannes griff Zappa sofort an. Und jetzt sah auch der Juwelier seine Chance. Vielleicht hätte Manfred sich das „auch“ besser gespart. So jedenfalls, nutzte der Juwelier die Chance seine Frau zu befreien und stürzte sich anschließend auf Hannes. Auch Sabine schien wie entfesselt und warf sich ohne Zögern Manfred an den Hals, der seinerseits immer noch Nixon fest im Griff hatte.

Es war völlig unklar, wer hier wirklich gegen wen kämpfte, und wie das ausgehen würde.

„Trick or treat“, tönte es vielkehlig von der Wohnzimmertür her. Offenbar hatte der Juwelier die Wohnungstür nicht wieder geschlossen, weil er fest davon ausgegangen war, dass seine ungeladenen Gäste sich mit der Beute gleich wieder auf den Weg machen würden. Und nun standen dort vier Kinder mit einer Mutter und wollten ihre Süßigkeiten haben.

„Rufen Sie die Polizei!“ schrie Sabine. „Wir werden überfallen!“ Gleichzeitig trat sie Nixon, der nach seiner Waffe greifen wollte mit dem spitzen Absatz auf den Handrücken und drückte Manfred fest zu Boden.

Die Mutter zog ihr Handy raus. Darth Vader war inzwischen wieder zu Bewusstsein gekommen und versuchte die Situation zu überblicken. Aber das war unmöglich. Eines jedoch hatte er verstanden, das Wort „Polizei!“.

Konsequenterweise war er somit auch der erste der das Schlachtfeld fluchtartig verließ.

Zappa und Nixon starrten Hannes und Manfred fragend an. Dann waren sie sich plötzlich alle einig. Mit der Polizei hatte es keiner von ihnen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Die einzig sinnvolle Option war die Flucht.
Sie schüttelten den Juwelier und Sabine ab. Jetzt wo sie einer Meinung waren, konnten Sabine und ihreMann die Bande nicht mehr aufhalten. Sie schossen an den verblüfften Kindern vorbei, die kurz davor waren loszuheulen, aber einfach den Grund dafür noch nicht verstanden hatten.

*

Sabine und ihr Mann rappelten sich gequält auf.

„Was ist jetzt mit den Süßigkeiten?“, fragte ein dicker Junge, nennen wir ihn Jake, genervt.

„Die sollt ihr haben!“ sagte Sabines Mann und zeigte ihnen die Schüssel an der Haustür. „Nehmt so viel ihr wollt!“

Und Sabine die wütend feststellen musste, dass ihre 80 Euro Nylons beim Kampf zerrissen waren, griff in den Beutel, der noch auf dem Boden lag. Sie fischte ein paar Ohrringe mit Perlenanhängern heraus und gab sie der Mutter.
„Die hier sind für Sie!“

„Und die Polizei?“ Die Frau hatte es bisher mit offen stehendem Mund nicht geschafft die Nummer zu wählen, so sehr hatten sich die Ereignisse überschlagen.

„Egal. Ist ja nichts passiert. Wir sind ja alle mit dem Schrecken davon gekommen.“

Auch der Juwelier wollte der Polizei nicht unbedingt die Differenz zwischen dem Schmuck in dem Beutel und seiner Steuererklärung offenbaren.

Eines war ihm jedoch absolut klar: Nächstes Jahr würden sie zu Halloween die Tür bestimmt nicht mehr öffnen, sondern einen Eimer mit Süßigkeiten einfach vor die Tür stellen.

Trick or Treat (95) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2011. Alle Rechte vorbehalten.