Die Frau des Malers

„Henry, mein Liebling, findest du nicht auch, dass du dich mit diesem Modell ein bisschen zu lange aufhältst?“ fragte Louise, während sie geübt mit dem großen Fleischmesser hauchdünne Scheiben aus der Gurke schlug.

„Wie kommst du darauf?“ fragte Henry verwundert und stibitzte sich eine der Gurkenscheiben.

„Sonst brauchst du fünf bis zehn Sitzungen, dann nimmst du dir ein neues Modell, aber diese Maria kommt bestimmt schon zum vierzigsten Mal. Ist doch eigenwillig, oder?“

Henrys begnadete Finger entgingen nur knapp dem Gurkenschaffot.

„Na ja, sie hat so herrlich hellenistische Formen. Hast du bei meinen letzten Skizzen diese wundervoll geschwungenen Linien ihrer Hüften gesehen?“

„Genauso gut könntest du eine Birne als Schablone nehmen, oder?“

„Schon, aber Birnen bewegen sich nicht so graziös und sind ausgesprochen exzentrisch, wenn es darum geht, eine bestimmte Pose einzunehmen“, erklärte Henry lachend.

Gewöhnlich war seine Frau nicht eifersüchtig auf seine Modelle. Es wunderte Henry schon ein wenig, weshalb sie jetzt solche Fragen stellte.

„So so, graziös ist sie auch noch. Oh, tu bitte nicht alle Gurkenscheiben in den Salat, ich brauche noch ein paar für meine Maske nachher.“

„Spüre ich da die Flamme der Eifersucht?“

„Na und? Du hast im letzten Monat mehr Zeit mit ihr als mit mir verbracht. Sollte ich mir da keine Gedanken machen?“

„Du kannst ja im Atelier aufpassen, dass ich keinen Unsinn mache. Ich habe nichts zu verbergen.“

„Sie nicht albern“, sagte Louise, aber eigentlich fand sie die Idee eigentlich gar nicht so abwegig.

„Übrigens zeichnet sie selbst auch ganz gut. Sie studiert Kunst und arbeitet hauptsächlich mit Acryl. Du würdest sie bestimmt mögen. Vielleicht male ich euch ja mal zusammen. Ich habe dich schon lange nicht mehr gezeichnet, nicht wahr?“

*

Als Louise einige Tage später das Atelier betrat, wusste sie sofort Bescheid. Henrys Blick sprach Bände. Diese Maria war wirklich hübsch. Sie hatte einfach etwas.

Zufrieden registrierte Louise, dass ihr Mann sie nicht mit irgendeinem durchschnittlichen Modelldummchen betrog. Wie lasziv sich dieses Weib auf dem weinroten Samt räkelte, locker auf eine Stufe gelehnt – das war schon was Besonderes.

Maria wiederum beobachtete jede Bewegung von Henrys Frau. Louise wusste genau, was sie mit diesen Blicken herausfinden wollte. Weiß sie es? Ist sie eine ernstzunehmende Konkurrenz? Wird sie um ihn kämpfen?

Louise hielt den penetranten Blicken stand und betrachtete sie ebenso eingehend. Im Prinzip stellte sie sich dieselben Fragen. Und Maria registrierte das. Es würde schwer werden, das war Louise klar. Maria war nicht nur hübsch und klug, sondern bewegte sich auch mit äußerst ästhetischer Grazie. Sie konnte gut verstehen, dass Henry mit ihr nicht fertig wurde.

Dann nahm Louise den Kampf auf. Sie positionierte sich zwischen Maria und dem an der Leinwand stehenden Henry. Mit dem Rücken zu ihrem Mann ließ sie langsam ihr Baumwollkleid herunter gleiten. Dabei hielt sie den Blick konzentriert auf ihre Nebenbuhlerin gerichtet.

In diesem Moment vergass Louise ihren Mann, der sowieso nur mit seinem Pinsel beschäftigt war, völlig. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf ihre Nebenbuhlerin. Die musterte die Frau des Malers ungeniert von den Zehenspitzen bis zu den Haarwurzeln. Louise blieb solange regungslos und nackt vor Maria stehen, bis sie das Gefühl hatte, dass Maria genug gesehen und sie verstanden hatte, dass es auch für sie nicht gerade leicht werden würde. Dann ließ sie sich neben Maria auf den Samt sinken.

„Wenn du dich hinter ihr positionieren könntest, – das wäre gut.“

„So, also hinter ihr ist mein Platz“, dachte Louise und registrierte kühl ihren ersten Minuspunkt. Doch nach außen hin zeigte sie keine Regung. Sie hatte lange genug als Modell gearbeitet, um sich, wenn es darauf ankam, eine professionelle Distanz zuzulegen.

„Ja, so ist gut, jetzt leg den Arm auf ihre Schulter. Gut so! Schmieg dich ein bisschen mehr an sie an. Ja genau, und Maria, dreh doch den Kopf ein wenig nach hinten und schau Louise an.“

Schau sie an, – so ein Idiot! Männer waren so unsensibel. Sollten sie sich jetzt wirklich stundenlang ins Gesicht sehen müssen? Egal, wenn Maria es aushielt, würde auch sie es durchhalten!

„Leg doch bitte noch die linke Hand auf Marias Oberschenkel.“

Louise verbarg ihren Widerwillen und ließ die Hand über Marias Oberschenkel gleiten, bis Henry „Genau so!“ rief.

„Jetzt noch ein bisschen näher ran, – perfekt, nun so bleiben!“

Maria schien das alles wenig zu tangieren. Doch Louise fing ganz leise an zu schwitzen. Sie hatte an den Beinen, am Bauch und an den Brüsten direkten Hautkontakt zu Maria. Und das fühlte sich weich und gut an. Ihre Hand lag auf Marias Oberschenkel, die Haut war fest und makellos weiß. Und verdammt, sie roch gut.

Was Louise an den meisten Menschen am wenigsten mochte, war deren Geruch. Maria starrte ihr fortwährend gnadenlos ins Gesicht. Sie musste merken, dass Louise schwitzte. Wenn sie die Feuchtigkeit nicht spürte, dann musste sie es in ihren Augen ablesen können.

Allmählich stieg in Louise eine heftige Beklemmung auf. Sie fühlte deutlich, dass sie dieses Spiel verlieren würde. Sie war Marias Blick auf Dauer nicht gewachsen. Sie verlor ihre Kühle und verdammt, sie schwitzte immer stärker.

Bald änderte sich die Farbe in Marias Augen. Aus dem starren, dunklen Braun wurde ein leichter, warmer Bronzeton. Das war die aufkeimende Gewissheit, dass sie gewinnen würde. Und Henry, dieser verdammte Ignorant, dachte nur an seinen Pinsel. Er merkte überhaupt nichts von dem, was da vor sich ging.

Marias Gesichtszüge wurden unterdessen immer entspannter, siegessicher, weicher und zum Teufel noch schöner.

Louise merkte kaum noch, wie die Zeit verrann, während sie gegen das Ertrinken in den zwei bronzefarbenen Seen, die sie unablässig fokussierten, ankämpfte. Nach fast drei Stunden war es nicht verwunderlich, dass Louise vor Erschöpfung anfing zu halluzinieren. Einmal glaubte sie sogar, dass Maria ihr einen Kuss zugeworfen hatte. Sie musste sich heftig zusammenreißen, um nicht die Orientierung zu verlieren und wieder klar zu sehen.

„Henry, wir brauchen mal eine Pause“, sagte Maria mit tiefsamtiger Stimme, die von der Farbe her, dem Untergrund entsprach, auf dem sie saß.

„Was?“, fragte Henry, der zum ersten Mal wahrzunehmen schien, dass es Menschen waren, die da seit Stunden nackt vor ihm saßen.

„Oh, ja natürlich, wir machen morgen weiter. – Ich arbeite noch ein wenig am Hintergrund. Ihr könnt ja inzwischen etwas essen.“

Maria und Louise lösten sich aus ihrer Verschlungenheit und streckten alle Glieder von sich. Wenigstens hatte das lange Posieren Maria genauso angestrengt wie Louise.

„Hast du was dagegen, wenn ich mit euch esse?“ fragte Maria scheinheilig.

„Überhaupt nicht“, sagte Louise und biss sich heftig auf die Unterlippe. „Ich mache schnell einen Salat.“

„Ich helfe dir natürlich“, stellte Maria klar und wollte gleich in die Küche gehen. Sie schien gar nicht daran zu denken, sich etwas überzuziehen.

Gut, es war ziemlich warm und Luise behagte die Vorstellung, sich jetzt ein Baumwollkleid über die feuchte Haut zu ziehen, auch nicht besonders. Wenn sie mit Henry allein gewesen wäre, hätte sie sicherlich auch nichts getragen. Aber das war doch etwas anderes. Andererseits hatte sie gerade nackt für drei Stunden Seite an Seite mit dieser Frau auf einem Podest gelegen. Warum sollte sie sich jetzt etwas überziehen?

Marias Hilfe beim Zubereiten des Salates bestand in erster Linie darin, locker auf einem Stuhl zu hocken und genussvoll das weiche Innere aus einer Tomate aus zu lutschen. Louise war das im Prinzip egal. Maria hatte längst gewonnen und Louise bekam Kopfschmerzen und Nackenstarre von dem Gedanken, dass sie vielleicht nicht mehr lange hier zu Hause sein würde.

„Was ist los? Hast du einen Krampf?“ fragte Maria freundlich, als sie den Anflug von Schmerz in Louises Gesicht entdeckte.

„Ach was, ich habe lange nicht mehr Modell gestanden, das ist alles.“

„Steifen Hals und Kopfschmerzen, was?“

„Reichlich“, antwortete Louise.

Es war wirklich nicht nötig, dass Maria jetzt auch noch besonders freundlich zu ihr war. Aber das war das Privileg der Siegerin.

„Warte, ich massiere deinen Nacken“, rief sie, sprang auf und war schon hinter ihr, bevor Louise nein sagen konnte.

Zu allem Überfluss hatte Maria auch noch ausgesprochen geschickte Hände.

Kraftvoll fuhren sie mit sanften Kreisen ihre Halswirbel rauf und runter. Louise spürte, wie sie sich unwillkürlich entspannte und die Schmerzen sofort nachließen. Ja, das tat gut. Sie ließ das Messer in der Hand sinken und genoss den Druck auf jeden Muskelstrang.

Dann glaubte sie, einen leicht hingehauchten Kuss auf ihrem Schulterblatt zu spüren. Diese Anflüge von Halluzinationen begannen sie allmählich zu verwirren. Warum dachte sie an so etwas? Schon folgte ein zweiter Kuss, diesmal wesentlich deutlicher, etwas unterhalb ihres rechten Schulterblattes.

Louise stand steif vor dem Küchentisch und hatte keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Der nächste Kuss traf ihre unteren Rückenwirbel und erzeugte eine kribbelnde Gänsehaut auf ihrem Rücken. Louises Finger verkrallten sich in der Tomate, die sie eigentlich in schmale Scheiben schneiden wollte, als sich Marias Hand in einer kreisenden Bewegung von hinten über ihre Brust schob. Als Marias Hand zwischen ihren Brüsten hinab über Louises Bauchdecke wanderte, quetschte sie aus der Tomate ein kleines Häuflein Mark heraus.

Küsse bedeckten Louises Hintern. Sie stand da, konnte nichts sagen, nichts denken und nichts tun als sich an einer zweiten Tomate, die auf dem Tisch lag, festzuhalten. Willenlos ließ sie sich von Maria herumdrehen und ihren Bauch mit Küssen überziehen.

Es machte Maria anscheinend nicht viel aus, dass Louise ihr dabei eine Menge zermatschter Tomaten ins Haar strich. Sie drückte Marias Kopf noch ein wenig tiefer. Ein unkontrollierbares Zittern erfasste Louises Oberschenkel und verwandelte ihre Knie in Gelee. Es dauerte nicht lange, bis sie einen schwer verdaulichen Orgasmus bekam.

Das erste was Luise sah, als sie die Augen wieder öffnete, war Henry, der mit entgeistertem Blick in der Tür stand und ungläubig das Treiben vor dem Küchentisch verfolgte.
Maria sagte nichts. Sie stand einfach auf, ging wieder zu ihrem Stuhl und nahm eine weitere Tomate, um sie auszusaugen.

Louise wollte zwar etwas sagen, aber wusste beim besten Willen nicht was. Sie stand sprachlos da, bis Henry kehrt machte und wieder in seinem Atelier verschwand.

„Wie soll das denn jetzt weitergehen?“ fragte Louise mehr sich selbst als Maria.

„Was soll da weiter gehen?“

„Na, erst treibst du es mit meinem Mann und jetzt das hier. Stellst du dir vor, dass wir jetzt hier locker zu dritt leben? Du siehst doch, dass Henry ziemlich sauer ist.“

„Ich treibe es mit deinem Mann? Du bist wohl verrückt! Männer interessieren mich doch überhaupt nicht. Ich und ein Mann, na danke!“

„Du meinst, du hast nicht …?“

„Um Gottes willen! Wozu brauchen wir einen Mann?“

„Er ist mein Mann, hast du das vergessen?“

„Dein Mann, na und? – Hat dir Henry erzählt, dass ich Kunst studiere? Ich würde dich gern mal zeichnen, wenn du …“

„Warte mal … dass wir uns da richtig verstehen, ich bin keine …“

„Lesbe, ist das Wort.“

„Genau.“

„Bist du sicher?“

„Ganz sicher!“

„Und warum …?“

„Weiß ich nicht! Will ich jetzt auch gar nicht drüber nachdenken“, rief Louise erregt. „Ich muss erst mal mit Henry reden.“

Louise ging zum Atelier hinüber, aber die Tür war abgeschlossen.

„Mach auf, Henry!“

„Was willst du?“

„Mit dir reden, bitte mach die Tür auf.“

Henry schob den Riegel zurück. Louise trat hinter ihn an die Leinwand. In kräftigen Farben strahlten ihr Marias und ihr eigener Körper entgegen.

„Hör zu Henry, ich weiß nicht …“

„Spar dir das bitte! Hier, schau dir das Bild an. Ich hätte es wissen müssen, als ich es malte.“

Henry hatte Recht. Das Bild strahlte eine unheimliche Sinnlichkeit aus. Louise spürte ein leichtes Kribbeln unter dem kalten Schweiß, der sich auf ihrer Haut bildete, als sie die aneinander geschmiegten Körper betrachtete.

„Gute Arbeit“, sagte Maria sachlich. Sie war ebenfalls an die Leinwand getreten. Mit Appetit biss sie in ein Stück von einer Gurke ab.

„Danke. Vielleicht eines meiner besten Bilder. Aber auch mein letztes von dir, Maria.“

Maria zuckte nur die Achseln.

Louise brauchte nur einen Blick auf das Bild zu werfen, um zu wissen, dass sie Maria früher oder später wiedersehen würde. Auch wenn Henry sie nicht wieder buchen würde. Sie sträubte sich gegen den Gedanken, sich verliebt zu haben. Aber genauso, wie sie wusste, dass sie Henry liebte, wusste sich auch, dass sie sich auf Dauer nicht gegen Marias Attraktivität wehren könnte. Louise ging hinüber zu dem mit Samt ausgelegten Podest und zog ihr Kleid über.

„Wo willst du hin?“ fragte Henry alarmiert.

„Ich fahre zu meiner Schwester.“

„Jetzt gleich? Deine Schwester wohnt in Frankfurt!“

„Egal. Ich nehme das Auto, wenn es dir recht ist.“

„Das ist mir nicht recht, aber das ändert wohl nichts.“

„Nein, nicht wirklich.“

„Darf man fragen, wann du wiederkommst?“

„Das weiß ich nicht. In ein paar Tagen vielleicht. Wenn ich mir über diese Sache klar geworden bin.“

Louise ging ohne weitere Worte und ohne sich zu verabschieden.

„Was meinst du, wer macht das Rennen?“ fragte Maria bissig, ohne Louise nachzusehen.

Henry sah sie wütend an und sagte: „Ich mache das Rennen, du bösartige Schönheit.“

„Abwarten“, zischte Maria und funkelte ihn gehässig an.


*


Louise brauchte vier Tage, um eine Entscheidung zu treffen. Es würde ihr schwerfallen, Maria zu vergessen, aber sie wollte Henry. Sonst hätte sie ihn nicht geheiratet.
Sie fand Henry allein zu Hause und er sah fürchterlich mitgenommen aus. Er hatte schwer gearbeitet und wenig geschlafen.

„Lass uns diese Frau vergessen“, erklärte Louise. „Ich weiß nicht, was sie mit mir angestellt hat, doch ich weiß, dass ich dich liebe und so soll es auch bleiben.“

„Ich hab das alles schon längst verarbeitet. Das einzige, was uns von ihr bleiben wird, wird das hier sein.“ Henry zeigt mit ausgestrecktem Arm durch die offene Ateliertür. „Meine erste Plastik!“
Mitten unter dem pyramidischen Glasdach stand eine lebensgroße Bronzestatue. Eine wunderschöne Arbeit, scheinbar aus einem Stück gegossen.

Louise ließ ihre Hände über das kühle Metall gleiten. Das war Marias makelloser, perfekter Körper. Es stimmte einfach alles, ihre Pose, ihr undefinierbares Lächeln, ihre ganze erotische Ausstrahlung, alles war da.

„So können wir sie bei uns behalten, ohne dass sie uns Schwierigkeiten bereitet. Nicht schlecht für den ersten Versuch, nicht wahr?“ erklärte Henry.

„Wunderbar. Wie hast du das geschafft?“

„Ich bin Künstler! Schon vergessen?“

„Natürlich nicht! – Aber was machen wir, wenn wir sie durch Zufall doch einmal wiedersehen?“

Henry zuckte beiläufig die Achseln. „Mach dir keine Gedanken, das wird nicht passieren? Außer dieser Statue werden wir nichts mehr von ihr sehen!“

„Und wenn doch?“

„Das passiert todsicher nicht, darauf gebe ich dir mein Wort.“

Die Frau des Malers (29) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 2004. Alle Rechte vorbehalten.