Professor Pappnase

Die Mittagssonne fiel schräg durch die Fenster ein und markierte den in der Luft liegenden Staub. Professor Bürger saß an seinem Schreibtisch und dachte nach. Er saß aufrecht, mit aufgestützten Armen am Tisch, die Hände hielten das Kinn wie eine kostbare Schale. Sein Blick war geduldig auf eine andere Welt gerichtet, eine Welt, die außer ihm niemand kannte. In letzter Zeit wanderten seine Gedanken immer öfter zu jenem einen Punkt zurück, dem alles entscheidenden. Erst später wurde ihm bewusst, wie besonders doch gerade dieser eine Tag gewesen war, und jetzt sah er es ganz deutlich.

Es war ein Frühlingstag im April ’62, ein ganz gewöhnlicher Apriltag. Damals war er einundzwanzig Jahre alt, studierte noch Medizin. Seine vorlesungsfreie Zeit verbrachte er meist zu Hause, bei seinen Eltern und arbeitete beim Straßenbau, um seine bescheidenen finanziellen Verhältnisse ein wenig aufzubessern. In seiner Heimatstadt hatte er viele Freunde, mit denen er schon früher gemeinsam zur Schule gegangen war. Man schätzte ihn als amüsanten Gesprächspartner, und er fühlte sich wohl in der Gesellschaft von Menschen. Er galt nicht unbedingt als Draufgänger. Im Umgang mit Frauen hielt man ihn aber für nicht unerfahren, zeitweilig genoss er sogar den Ruf eines Weiberhelden. Doch eigentlich eher zu Unrecht.

An besagtem Abend zog er wie immer mit viel Getöse, inmitten der Schar seiner Freunde in den Beatschuppen ein. Diese Ankunft der Clique war ein immer wiederkehrendes Ritual. Die jugendliche und überschwängliche Freude machte sich in den üblichen Späßen und Sprüchen Luft. Man war sich sicher, dass einem die Welt gehörte, und man sie irgendwo hier in der rechten Hosentasche mit sich herumtrug.

Schon bei seinem Eintreten hatte er sie bemerkt. Sie saß an einem dieser runden, kleinen Tische und schlürfte etwas durch einen Strohhalm, was nach einem nichtalkoholischen Getränk aussah. Sie beobachtete seinen Auftritt. Das tat ihm gut. Natürlich konnte er jetzt nicht einfach zu ihr herübergehen, doch der Abend würde sicherlich noch genug Gelegenheit bieten, sich näher zu kommen.

Erst einmal stand er da, mit einer Hand in der Hosentasche, in der anderen hielt er elegant einen länglichen Zigarillo, an dem er hin und wieder würdevoll paffte und führte eine angenehm seichte Konversation. Im Nachhinein kamen ihm diese immer wieder aufsteigenden Bilder albern und unnütz vor. Doch damals war er ein junger Atlas, der ja die Welt in der Hosentasche trug.
Natürlich tanzte er mit ihr an diesem Abend. Sie trug ein enges Kleid, dessen Saum ordnungsgemäß bis über die Knie reichte, trug dunkelrote Schuhe mit halbhohen Absätzen, ein wenig Rouge, eine gewagte Spur Lippenstift. Nicht kussecht, wettete er. Ihre Haare hatte sie toupiert und hochgesteckt. Ihre Figur war durchweg schlank, ein wenig fehlte es ihr an der weiblichen Rundlichkeit, die er sonst eigentlich schätzte. Alles in allem war sie nicht der Hammer, aber doch durchaus attraktiv.

Eines aber fehlte ihr mit Sicherheit: Das war Sex-Appeal. Sie war zu ängstlich, zu melancholisch. Wie sie ihn beim Tanzen anstarrte! Sicher er war stolz darauf, aber er fand es ein wenig zu dramatisch, zu leidend, nichts für einen verspielten, jungen Gott.

Doch was bedeutete das schon, er wollte sie ja nicht für ewig, sie war keine Frau fürs Leben. Es war ja nur eines dieser aufregenden, wie die Perlen auf der Schnur des Rosenkranzes aneinandergereihten, Abenteuer der Jugend.

Sie verbrachten den ganzen restlichen Abend miteinander, und nachdem sie zwei Gläser der obligatorischen Erdbeerbowle getrunken hatte, gelang es ihm, sie ein wenig aufzuheitern. Zögernd lächelte sie über einige seiner Späße, manchmal auch über die unanständigeren. Doch gelang es ihm nicht, diese sorglose Heiterkeit in ihr zu entfachen, von der er selbst und die meisten anderen beständig durchdrungen waren. Immer merkte man ihr die Mühe und diese Spannung an, die es sie kostete, sich heiter zu geben.

Dann, als sich der Abend dem Ende näherte, erbot er sich, sie in seinem Wagen nach Hause zu fahren. Sie nahm sein Angebot an.

Auch dieses war eines der Rituale damals, das Nach-Hause-Fahren hatte immer seinen Preis. Im Auto saß sie schweigend neben ihm. Es war eine stockfinstere Nacht, und die Straße in der sie wohnte hatte noch keine künstliche Beleuchtung. Daher musste er sich auf das Fahren konzentrieren.
Also starrten beide angestrengt durch die Windschutzscheibe, wie auf der Suche nach irgendetwas. Zwanzig Minuten lang brummte nur der Motor gleichmäßig zwischen ihnen, dann waren sie da.

Der Abend hatte ihn doch mitgenommen, sie aber schien gänzlich ausgeruht. So beugte er sich zu ihr hinüber, um sie, wie es üblich war, zum Abschied zu küssen. Doch während er sie küsste, schlang sie die Arme um seinen Hals und zog ihn immer leidenschaftlicher an sich. Hier tat sich eine ganz unerwartete Chance auf. Meistens blieb es beim harmlosen Kuss, doch manchmal kam es eben anders. Es war nichts Ungewöhnliches, dass man es im Auto tat. Sie jedoch schien gänzlich unerfahren auf diesem Gebiet und zeigte sich nicht sonderlich geschickt.

Sie hätten sich damals viel Ärger ersparen können, wenn sie einige Sätze miteinander gesprochen hätten. Dann hätte er schnell gemerkt, dass sie nicht wusste, dass es ihre Aufgabe war, ein größeres Unglück zu verhüten. Er hatte ja immer einige Präservative für den Notfall im Handschuhfach, aber es war üblich, dass die Mädchen dafür sorgten, dass sie nicht schwanger wurden, schließlich war es ja auch in ihrem Interesse.

*

Es klopfte an der Tür. Professor Bürger rief ein gedämpftes „Herein“.

Eine der zierlichen, blonden Krankenschwestern, mit den weißen Söckchen und den ausgetretenen Arbeitsschuhen, streckte ihren bekittelteten Oberkörper durch den Türspalt und sagte:
„Der Patient Heitman ist fertig zur Operation. Sie möchten in einer viertel Stunde oben sein.“

„Gut, ich komme gleich“, erwiderte er mit tiefer, sanfter Stimme, die nichts von seinen wirklichen Gedanken verriet.

Die Schwester zog sich leise zurück.

Die ganze Welt ließ sich in zwei Arten von Operationen unterteilen: Die mit und die ohne Komplikationen, notwendige, ratsame und unnötige Operationen.

Seine Ehe zum Beispiel, das war klar, war eine notwendige Operation, mit einer nicht enden wollenden Folge von Komplikationen. Doch genau wie als Arzt, konnte er sich in seiner Ehe nur zu einem einzigen Standpunkt durchringen. Es gab halt den der heilt und den, der der Heilung bedurfte.

Er war Arzt. Das hatte er gelernt. Komplikationen aber treten bekanntlich bei Patienten auf, damit war auch klar, wer in seiner Ehe die Probleme bereitete. Keine Heilung ohne Operation, keine Operationen ohne Betäubung. Also sorgte er dafür, dass seine Frau immer das eine oder andere Mittelchen zur Hand hatte, um sich bei allzu schweren Depressionen selbst zu helfen. Schließlich hatte er noch mehr Patienten und konnte beim besten Willen nicht immer anwesend sein.

Als er spät am Abend seine Wohnung betrat, war es ungewöhnlich still. Er betrat die Küche, sie war unaufgeräumt wie immer. Er suchte eine Nachricht oder einen Hinweis, wo sich seine Frau aufhielt.

Angestrengt dachte er nach, ob sie irgendetwas gesagt hatte, aber er musste feststellen, dass er schon lange nicht mehr zugehört hatte, wenn sie etwas sagte. Er konnte sich nicht einmal genau an ihre Stimme erinnern.

Also ging er ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als er die Tür öffnete, sah er sie im Bett liegen. Sie lag in letzter Zeit öfters tagelang im Bett. Auf dem Boden lagen leere Veronalröhrchen, sie schlief.

Er ging zu ihr hinüber und sah mit einem Blick, dass sie zu viel davon genommen hatte. Er hob ihre Augenlider und untersuchte sie gründlich. Es war nicht gefährlich, sie hatte die Tabletten erst vor kurzem genommen, und das auch nicht zum ersten Mal.

Aus seinem Arbeitszimmer holte er die notwendigen Hilfsmittel und leerte ihren Magen aus. Beim ersten Mal hatte er sich noch erschreckt, hatte sie in die Klinik gefahren. Der Klatsch war monatelang nicht zur Ruhe gekommen. Beim zweiten Mal hatte er sie zu Hause behandelt, und auch diesmal sollte möglichst niemand etwas erfahren. Zu einem Spezialisten musste sie, soviel war sicher. Denn es war ja denkbar, dass er an so einem Tag einmal nicht pünktlich nach Hause kam.

Er war fertig mit ihr. In der Küche suchte er sich etwas Essbares aus dem Kühlschrank.

*

Damals, im April, hatte er sie noch ein paarmal gesehen und war mit ihr ausgegangen, bevor die Semesterferien zu Ende gewesen waren. Dann hatte er nichts mehr von ihr gehört.
Erst gegen Ende des Semesters hatte er einen Brief von ihr erhalten, in dem sie sich erkundigte, wann er wieder zurückkäme und, dass sie dringend mit ihm sprechen müsste. Er hatte ihr zurückgeschrieben, wann er käme, und dass er sich bei ihr melden würde, doch eigentlich wollte er sich nicht wiedersehen, weil er in den Ferien frei für andere Unternehmungen sein wollte.
Als es dann soweit war, und er sie wiedersah, brach sie sogleich in Tränen aus und erzählte ihm, nachdem er hartnäckig nach dem Grund fragte, dass sie schwanger wäre. Er war sich zu diesem Zeitpunkt nicht darüber klar, was das für ihn bedeuten würde. Er hatte einfach Angst.

Der Schreck über diese Nachricht versteinerte seine Glieder. Er wollte fragen, ob sie es abtreiben lassen könne, aber er wusste, dass dies nicht in Frage kam. Schon weil er im Prinzip selbst dagegen war. Kurzfristig dachte er daran, zu bezweifeln, dass er der Vater sei. Aber er wusste längst, dass er es sein musste.

Heiraten, eine Frau, die er gar nicht liebte, das schien ihm unmöglich. Aber es gab keinen Ausweg. Am liebsten hätte er einfach laut losgeschrien. Nur eine Frage war in seinem Kopf, warum bei mir? Warum ich?

Nichts von alledem konnte ihm helfen, er musste damit fertig werden. Er sagte, dass er noch nicht heiraten wollte, weil er kein festes Einkommen hätte. Sie hörte zu. Er versprach ihr, dass er alles für sie und das Kind tun wollte, was ihm möglich war. Sie hörte zu. Er sagte, dass man die Sache in Ruhe und vernünftig überdenken müsste. Dass eine Abtreibung niemals in Frage käme. Sie glaubte ihm alles.

Sein erster Schritt war nun, die Familie des Mädchens aufzusuchen, sich vorzustellen und ihnen seine Absichten zu eröffnen. Dieses Gespräch war zwar unangenehm, verlief aber zu seiner vollsten Zufriedenheit.

Die Mutter des Mädchens machte ihm ernstliche Vorwürfe, doch beruhigte sie sich schnell wieder und erklärte dann, dass er unbedingt seine Ausbildung beenden müsse. Ans Heiraten könne man auch später noch denken. Sie wollte Tochter und Kind später gut versorgt wissen, deshalb war ihr im Augenblick nur wichtig, dass er die Vaterschaft anerkannte, und das tat er dann auch.
So verbrachte er diese Ferien damit, sein Geld für das kommende Semester zu verdienen. Zu dieser Zeit begann das Leben seine Leichtigkeit zu verlieren. Die Verantwortung saß ihm mit festem Griff im Nacken und trieb ihn zur Arbeit an. Er verbrachte nicht mehr so viele gesellige Abende in den Studentenkneipen wie früher. Alles Geld, das er zusammenraffen konnte, musste sorgfältig verwendet werden. Und je mehr sein Unmut über diese Situation stieg, desto mehr trieb es ihn an, sein Studium zu beenden.

In dieser Zeit entwickelte sich sein beruflicher Ehrgeiz, der ihn später beinahe jedes Ziel erreichen lassen sollte.

An einem Abend im Januar war es dann soweit. Während er im kalten Zimmer über dicken Anatomielehrbüchern hockte, erreichte ihn die Nachricht, dass die Geburt unmittelbar bevorstünde. Die Aufregung eines werdenden Vaters nahm augenblicklich von ihm Besitz. Ein Junge war es geworden.

Nachdem die ganze Familie die schlafende Mutter im Krankenhaus verlassen hatte, begab man sich nach Hause, wo die halbe Nacht gefeiert wurde. Er rauchte seit langem wieder einen dieser langen Zigarillos und fühlte seit ebenso langer Zeit wieder einmal die Leichtigkeit des Seins.

*

Wie schnell war die Zeit seitdem vergangen? Als junger Assistenzarzt hatte er noch der Zeit entgegengefiebert, wo er selbst einmal Verantwortung tragen würde. Jetzt war es längst soweit.
Die ganze Zeit über, die er gebraucht hatte, um seine Ziele zu erreichen, war es seine Frau gewesen, die ihm die größten Steine in den Weg gelegt hatte.

Sie hatte angefangen zu trinken. Mit allem schien sie unzufrieden zu sein. Nicht, dass sie sich wirklich über irgendetwas beklagen konnte, aber ihr depressives Gesicht sprach Bände. Er war nicht genug zu Hause, er kümmerte sich nicht genug um sie. Er liebte sie nicht.

Das musste er sich jeden Tag anhören. Sah sie denn nicht, dass er alles tat, um ihr Leben so angenehm wie möglich zu gestalten? Dass er alles nur für sie und ihr Kind tat? Dass er seit Jahren nur für diesen einen dummen Fehler büßte?!

Wenn er sich hin und wieder amüsierte, auch mit anderen Frauen, so fand er das nur recht und billig. Schließlich drückte er sich nicht davor, seine Rechnung zu bezahlen, aber es konnte doch nicht so sein, dass er auf sein gesamtes Leben verzichtete, um diese eine Schuld zu begleichen.

Doch sie nörgelte und nörgelte, wollte keine Kompromisse und eine darauf basierende Ehe akzeptieren. Immer sollte es Liebe sein, die sie verband. Sie hatte einfach keinen Sinn fürs Reale.
All diese Probleme würden nie aufhören, das wusste er. Es gab nur einen Weg ihr wirklich zu helfen. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer eines befreundeten Neurochirurgen, der ihm schon bei früheren Gesprächen angedeutet hatte, dass man in seiner Klinik bereit sei, seine Frau auch kurzfristig aufzunehmen.

Was blieb ihm anderes übrig?

Er musste seine Frau nun auch noch vor sich selbst beschützen. Und sie musste endlich mit ihren Problemen fertig werden. Wenn man krank war, musste man zu einem geeigneten Arzt, das war gar keine Frage.

Nachdem er den Hörer wieder aufgelegt hatte und einen Termin für den nächsten Tag vereinbart hatte, fühlte er sich unendlich erleichtert.
Es war schon eine schwere Verantwortung, die er all die Jahre getragen hatte, als er versucht hatte, das Problem allein zu lösen.

Professor Pappnase (58) - © Copyright bei Ingolf Behrens, Hamburg, 1991. Alle Rechte vorbehalten.